Beratungsklau: Wer bestiehlt eigentlich wen?

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In zahlreichen Gesprächen mit Händlern aller Art und Grössen kam es in den vergangenen Wochen und Monaten unweigerlich immer wieder zum Thema, dass der Onlinehandel mit günstiger Ware aus dem Ausland den Schweizer Detailhandel und damit Arbeitsplätze gefährde.

Und zudem würden Kunden vermehrt Beratung „klauen“ – sich im Ladengeschäft beraten lassen und dann online einkaufen.

Das zu leugnen, wäre falsch. Doch warum tun Kunden das?

Stationäres Verkaufsgespräch - wer ist hier informierter? Bild: Fotolia
Stationäres Verkaufsgespräch – wer ist hier informierter? Bild: Fotolia

Kunden denken nicht mehr in Grenzen

Ähnlich wie internationale E-Commerce Player vom Schlage eines Amazon oder Zalandos denken auch die Kunden schon länger nicht mehr in Grenzen. Gekauft wird dort, wo es gerade passt. Und was passt, bestimmt primär der Service, die Verfügbarkeit oder eben der Preis.

Oder anders gesagt; Kunden spielt es einerseits eine untergeordnete Rolle, wo der Händler sitzt, im In- oder im Ausland. So lange der Service stimmt. Und anderseits kommt auch wie Ware, die in den stationären Regalen (oder bei Schweizer Mode-Versandhändlern) liegt, schon seit Jahrzehnten aus dem Ausland. Und so lange sich der stationäre Handel nicht mit Service und Beratung profilieren kann, verliert er dieses Argument zusehends an die Kunden. Wobei wir schon beim nächsten Punkte wären:

Stationär schaffte Beratung ab

Online hat ggü. Stationär drei wesentliche Nacheile.

  1. Haptik; der direkte Produktkontakt fehlt. Ich kann es nicht anziehen, anfassen oder daran riechen.
  2. Verfügbarkeit; Online ist Distanz- rsp. Versandhandel. Die Ware muss zuerst zum Kunden kommen.
  3. Persönliche Beratung; ähnlich der Haptik fehlt der persönliche Kontakt und damit die persönliche Beratung

Nun beim 1. Punkt schaffen technologische Möglichkeiten je länger je mehr ein ähnliches wenn auch leicht differenziertes Erlebnis. Doch hier scheinen sich auch die Ansprüche zu verschieben und es reicht, eine 360Grad-Zoom-Ansicht eines LED-Fernseher oder Rennrades anzubieten. Garniert mit den zusätzlichen Möglichkeiten wie Testberichten, Youtube-Videos etc. kann sich der Kunde ein besseres Bild machen als im Handel.

Bzgl. dem 2. Punkt Verfügbarkeit sind derzeit Innovationen an allen Ecken und Enden von den Logistikdienstleistern zu beobachten. War früher 24-48 Stunden Lieferung OK, differenziert man sich heute mit Next-Day-Evening, Same-Day, 1-Hour-Vision oder gar 30 Minuten Lieferung wie unlängst Zalando in Aussicht gestellt hat.

Kommt Punkt 3 – persönliche Beratung. Und hier werfe ich dem stationären Handel vor, dass er diese bereits vor Jahren selber abgeschafft hat. Wenn ich heute ein Ladengeschäft besuche, habe ich in der Regel nicht das Gefühl, dass ich noch Fachberatung erhalte.

Klar könnte ich aus dem Stegreif wohl ein halbes Dutzend Händler nennen, wo ich eine Top-Beratung erhalten habe. Ich kann diese jedoch auch nur spontan umgehend nennen, weil heute eine wirkliche Fachberatung die Ausnahme und eben nicht mehr die Regel ist. Hier hat sich der Handel eindeutig selber in die Defensive gebracht.

Wer klaut bei wem?

Doch nun zum Ausgangspunkt und eigentlichen Titel dieses Artikels, dem Beratungsklau. Wer kennt ihn nicht und auch gegenüber den Medien wird er oft als Ärgernis genannt.

Doch wer klaut eigentlich bei wem? Wir hören nur immer den stationären Handel, der sich beklagt, dass er kostenlose Beratung liefert und dann die Umsätze in den Onlinekanal verliert.

Hat sich jemals ein Online-Händler über Beratungsklau beschwert? Nicht nur aus unserer langjährigen Erfahrung sondern auch aus diversen Studien wissen wir, dass der auch als ROPO bekannte Effekt viel gewichtiger ist. Also viel mehr stationäre Einkäufe online vorbereitet werden als umgekehrt („Bereits 40% der stationären Käufe werden online vorbereitet„).

Kunden betreten also ein Ladengeschäft und haben sich eingehend mit dem Sortiment und dem Produkt beschäftigt. Haben online recherchiert, Testberichte gelesen, Vergleiche angestellt und vieles mehr.

Haben sich also durch vom Onlinehändler aufwendig gepflegte Produkt-Attribute und -Eigenschaften anhand von Filtern und Kriterien gearbeitet und eine Vorentscheidung getroffen. Haben professionell erstellte und bearbeitete Produktbilder im Detail betrachtet. Und konnten die von einer Heerschar von Produkt-Managern und Redaktoren auch SEO-optimierten und einzigartigen Produkttexte lesen wie auch die zeitintensiv kuratierten Test-Berichte, Bewertungen und Anwendungsvideos studieren.

Und ausgerüstet mit diesem geballten in den Onlineshops – notabene kostenlos – bezogenem Knowhow gehen sie Stationär einkaufen.

Wann haben Sie also letztmals einen Onlinehändler sich über Beratungsklau beschweren gehört? Eben. Es wäre also durchaus an der Zeit, wenn man den Vorwurf „Beratungsklau“ auch mal richtig einordnet und von der anderen Seite beleuchtet. Dort wo der Beratungsklau effektiv stattfindet.



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Thomas Lang, Betriebsökonom und Wirtschaftsinformatiker, unterstützte Unternehmen bei der Strategieentwicklung von digitalen Vertriebsmodellen, beim Aufbau von digitalen Geschäftsmodellen, bei Expertisen rund um Onlinehandel und der operativen Umsetzung im Bereich Organisation, Prozesse, Innovation, Change-Management und Unternehmenskultur. Er ist Gründer der Carpathia AG, der unabhängigen und neutralen Unternehmensberatung für Digital-Business, E-Commerce und Digitale Transformation im Handel. Zudem ist er Autor von zahlreichen Fachartikeln und -studien, Dozent für Online-Vertriebsmodelle an verschiedenen Hochschulen sowie gefragter Keynote-Speaker zu E-Commerce und Digital Transformation im Handel. Er ist Initiator und Organisator der Connect - Digital Commerce Conference sowie des Digital Commerce Awards. Der von ihm gegründete Carpathia Digital-Business-Blog (https://blog.carpathia.ch) zählt im deutsch-sprachigen Raum zu den wichtigsten unabhängigen Publikationen im Digitalen Handel. Medien bezeichnen ihn als digitalen Vordenker, zitieren und interviewen ihn regelmässig . Am Mittwoch 17. November hat Thomas Lang für immer die Augen geschlossen.

2 KOMMENTARE

  1. Interessante Sichtweise. Ich kann beide Seiten verstehen. Der kleine Buchhändler, der die Amazonbuchpakete der Nachbarn entgegen nimmt, und sich ärgert, warum die Leute nicht einfach bei ihm kaufen. Aber der Artikel hat natürlich recht, inzwischen startet fast jede größere Kaufentscheidung online. Das Aufbereiten der Daten ist ebenfalls aufwendig. Sehr gelungener Denkansatz.

  2. Das der Kauf online vorbereitet wird heißt aber noch lange nicht, daß dann auch wirklich stationär gekauft wird, nur weil man nochmal zum Einzelhändler geht, um sich (meistens höherpreisige Ware) vorher auch mal anzusehen. – Und (!): Noch genau die Fragen zu stellen, die im Internet nämlich gar nicht oder eben nicht eindeutig beantwortet wurden. – Wenn man alles zusammen hat, bestellt man da, wo es 1,50 günstiger ist. So ist es sehr oft und deshalb geht die Rechnung aus obigem Artikel im Normalfall nämlich auch nicht auf.

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