Die digitale Veredelung physischer Produkte (Teil 2/2)

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Dieser Blog-Beitrag ist die Fortsetzung eines ersten Teils, welcher eine Übersicht über Digitale Produkte gibt.

Wie digitalisiert man ein Produkt?

Wie geht man da am besten vor wenn man ein Produkt digital veredeln will?

Ich möchte aufzeigen, wie man grob vorgehen könnte um klassische Produkte zu digitalisieren – nicht nur zum Spass, sondern vor allem um Nutzen für Kunden und andere Stakeholder zu schaffen.

Als Beispiel für meine Überlegungen verwende ich ein ganz klassisches Produkt – einen Sicherheits-Helm.

Sicherheitshelm
Sicherheitshelm des Schweizer Herstellers Artilux

Für die Überlegungen spielt es nicht einmal eine grosse Rolle, ob man von einem Helm für Bauarbeiter, einem Helm für Feuerwehrmänner oder einem Motorrad-Helm spricht.

Hinter dem Wort Kunde können sich bereits unterschiedliche Stakeholder und Interessen verstecken. So ist beim Sicherheitshelm in Zusammenhang mit Kunde zumindest an folgende Personen zu denken:

  • Helm-Träger
  • Sicherheits-Verantwortlicher des Arbeitgebers des Helm-Tägers
  • Einkäufer und ggf. Strategischer Einkäufer

Bei der Digitalisierung von Produkten geht es um strategische Überlegungen, wo folgende Punkte unter einen Hut gebracht werden müssen (Liste ist nicht abschliessend):

  • Erwartungen und Bedürfnisse der Kunden (auch latente Bedürfnisse)
  • Nutzen für Kunden, Hersteller und ggf. Händler und andere Stakeholder
  • Trends in der Branche
  • Disruptions-Potentiale
  • Möglichkeiten und Ressourcen des Herstellers
  • Business-Case des Herstellers
  • Technologische Möglichkeiten (Digitale Elemente)

Mögliche digitale Elemente in einem Sicherheits-Helm:

Sensoren

  • Bewegungs-Sensor
  • Beschleunigungs-Sensor
  • Kraft/Druck-Sensoren
  • UV-Licht-Sensor
  • Staub-Sensor
  • Gas-Sensor
  • Temperatur-Sensor
  • Sensoren zur Überwachung der Körperfunktionen
  • GPS-Sensor
  • Mikrofon
  • Kamera

Aktoren

  • Warnsummer
  • Lautsprecher bzw. Eingebaute Kopfhörer
  • Bluetooth
  • Funk-Modul, evtl. GSM
  • Display
  • Bedien-Einheit

Mit diesen Sensoren und Aktoren könnte man z.B. folgendes anstellen:

  • Erkennen von Gefahren-Situationen und den Träger des Helms oder andere Personen warnen (z.B. wenn der Sauerstoff-Anteil zu gering ist).
  • Erkennen, dass der Träger des Helms trinken/essen muss und ihn entsprechend warnen.
  • Aufzeichnen der Bewegungs-Daten um diese analysieren zu können und um damit Arbeits-Abläufe zu optimieren.
  • Aufzeichnen der Nutzungs-Daten, damit die falsche Handhabung eines Helms erkannt werden kann.
  • Aufzeichnen der Nutzungs-Daten so dass der Hersteller die Nutzung des Produkts besser verstehen kann und so mehr Informationen/Entscheidungsgrundlagen für Weiterentwicklungen hat.
  • Aufzeichnen der Beschleunigungen um Situationen zu erkennen, die eine Kontrolle/Wartung/Austausch des Helms erfordern (z.B. nach einem Schlag auf den Helm).
  • Messen der Beschleunigungen um Schläge zu erkennen und automatisch einen Notruf auszulösen.
  • Aufzeichnen der Nutzungs-Daten um ggf. Nachlässigkeiten bez. Sicherheitsrichtlinien festzustellen.
  • Aufzeichnen der Nutzungs-Daten um den Austausch des Helms im richtigen Moment vornehmen zu können (z.B. bei übermässiger UV-Strahlung)
  • Aufzeichnen des Kamera-Bildes zur Nachvollziehbarkeit (z.B. Qualitätskontrolle der erledigten Arbeiten oder um bei Unfällen die Situation rekonstruieren zu können)
  • Über GPS-Funktion verlorene Helme wieder finden, bzw. Menschen die den Helm tragen und nicht mehr reagieren schnell finden zu können.
  • Helm gibt dem Helm-Träger Anweisungen für Arbeiten, welche von diesem quittiert werden müssen (Steigerung/Sicherung von Qualität in Arbeitsabläufen)

Diese Liste ist nicht abschliessend, aber sie zeigt auf: Es gibt ein Fülle an Möglichkeiten.

Um eine möglichst vollständige Liste aller denkbaren und undenkbaren Möglichkeiten zu erhalten, bietet sich ein Brainstorming mit einem grösseren interdisziplinären Team an.

Die Möglichkeiten, welche digitale Elemente bieten können schnell überfordern und dazu führen, dass man zu viel will oder das Falsche macht.

Um herauszufinden welche der Möglichkeiten die Richtigen sind, lohnt es sich, diese aus unterschiedlichen Sichtweisen zu betrachten und zu bewerten.

Solche Betrachtungsweisen könnten sein:

  • Abgleich der Möglichkeiten mit bereits geäusserten Bedürfnissen der Stakeholder.
  • Personas-Erarbeitung und Umfragen bei den Helmträgern und anderen Stakeholdern um daraus latente Bedürfnisse zu erarbeiten und diese mit den Möglichkeiten abzugleichen.
  • Betrachtung der soziodemografischen Entwicklung bzw. der sich verändernden Erwartungshaltung der Bevölkerung (GenY, GenZ), Abgleich mit den Möglichkeiten.
  • Betrachtung der Trends und der Veränderungen in unterschiedlichen Lebensbereichen der Personas, Ableitungen auf Erwartungen an das Produkt, Abgleich mit den Möglichkeiten.
  • Ggf. differenzierte Betrachtung der kulturellen Unterschiede der Zielgruppen- und -märkte.
  • Technologische Machbarkeit hinsichtlich Komplexität, Kosten, Know-How, Wartbarkeit, usw.

Zum Schluss bietet es sich an, entlang des Produkt-Lifecyles sich die Fragen stellen:

  • In welchem Teil des Produkt-Lifecycles kann mit welcher technologischen Möglichkeit welcher Nutzen für welchen Stakeholder generiert werden? Welche Services können wem angeboten werden?
  • Bewertung: Wie wirken sich die Nutzen auf Verkaufszahlen/Nutzungszahlen usw. aus?
  • Bewertung: Wieviel sind die Nutzen den Stakeholdern Wert? Können höhere Preise erzielt werden? Können mit neuen Business-Modellen zusätzliche Erlöse generiert werden?

Mit diesen Informationen liegen die groben Entscheidungsgrundlagen bez. der Digitalisierung eines Produkts vor. Detaillierte Business-Case-Berechnungen sind der nächste Schritt.

Dabei darf man nicht vergessen, die Anbindung an Ökosysteme in Betracht zu ziehen. Nicht alle Funktionalitäten müssen selbst entwickelt werden.
Im Bereich Smart Home gibt es z.B. diverse Ökosysteme wie z.B. Nest von Google oder Home Connect an die man sich andocken kann. Diese bieten Elemente die in Geräte ingebaut werden können und eine APP muss dann beispielsweise nicht mehr entwickelt werden.

Die oben erwähnten Betrachtungen, Analysen und Bewertungen dürften für manch ein Unternehmen eine Herausforderung darstellen! Es ist im Beispiel Sicherheitshelm davon auszugehen, dass sich der Hersteller mit Technologie beschäftigen muss, mit der er sich nicht auskennt und dass mit neuen digitalen Elementen auch neue Möglichkeiten von Business-Modellen diskutiert werden müssen, mit denen sich der Hersteller noch nie beschäftigt hat.

Neue Kultur – Change Management

Ist man als Hersteller zum Schluss gekommen “Die Digitalisierung des Produkts lohnt sich und soll umgesetzt werden” ist das Ganze für die Geschäftsleitung noch nicht fertig – es fängt erst an!

Wenn es an die Entwicklung und Umsetzung geht fehlt es wahrscheinlich an internem KnowHow für die Planung, Entwicklung und später für den Betrieb und die Wartung solcher Produkte. Aber auch vom Verkauf, ja wahrscheinlich von der gesamten Belegschaft ist eine Umstellung und neue Denke gefragt, die nicht vergleichbar ist mit der Einführung eines neuen Produkts.

Hier nur einige Stichworte dazu:

  • Fehlendes KnowHow muss erkannt und es muss sensibel damit umgegangen werden.
  • Mitarbeiter werden überfordert sein, Ängste haben und dagegen arbeiten.
  • Systeme, Prozesse usw. müssen erweitert, neu evaluiert werden.
  • Kundenfokussierung. Der Kunde wird näher ran geholt – wie macht man das, wie geht man damit um.
  • Neue Business-Modelle müssen implementiert und weiter entwickelt werden.
  • Es ist nie fertig – die ständige Weiterentwicklung, der permanente Wandel ist in vielen Köpfen nicht drin. Auch die Agilität ist hier ein Thema.

Dieser kulturelle, aber auch gesamthafte Change der Firma ist die grösste Herausforderung und bedarf höchster Aufmerksamkeit!

Lohnt sich die Digitalisierung von Produkten?

Lohnt es sich für einen Hersteller, ein Produkt zu digitalisieren? Rechnet sich der Business-Case?

Diese Fragen muss man sich selbstverständlich stellen. Im Idealfall, kann man mit der digitalen Veredelung ein Produkt sehr viel wertvoller gestalten, so dass sich alle um das Produkt reissen und die Zahlen in die Höhe schnellen.

Trotz aller Möglichkeiten oder besser aufgrund all der Möglichkeiten und der Komplexität die eine solche Digitalisierung mit sich bringt darf aber nichts überstürzt werden.

Es muss genau abgewogen werden, in welchen Schritten die Digitalisierung erfolgen soll.

“Lieber machen wir etwas nicht als nicht richtig!”

Dieses Zitat eines Carpathia-Kunden aus einem Strategie-Workshop sollte man sich gerade in solch einem Projekt zu Herzen nehmen.

Wenn Gedanken zur Digitalisierung eines Produkts angestellt werden, wird die Frage, ob sich denn die dazu notwendigen Investitionen lohnen, unweigerlich kommen. Die Frage nach dem ROI (return on invest) wird nicht lange auf sich warten lassen.

Der Begriff ROI hat jedoch noch eine andere Bedeutung: ROI (risk of ignorance)

Mit anderen Worten, man muss sich auch fragen, ob man es sich leisten kann nichts zu tun.

Fragen die man sich stellen sollte:

  • Wie hoch ist das Risiko, dass ein Mitbewerber das Produkt digitalisiert?
  • Wie hoch ist das Risiko, dass ein branchenfremder oder neuer Anbieter das Produkt in digital veredelter Form auf den Markt bringt?
  • Was passiert mit mir, wenn einer der beiden Fälle eintrifft?

Fazit

Kaum ein Hersteller kommt darum herum, sich Gedanken über die digitale Veredelung seiner Produkte zu machen. Je früher er damit beginnt, desto besser ist er gegenüber der Konkurrenz gewappnet und desto besser ist es für seine langfristige Existenzberechtigung.



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