Retail Vision: Verleibende Stärken identifizieren und fokussieren

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Der stationäre Detailhandel bekundet aktuell nicht nur in der Schweiz grosse Mühe und scheint sich an jeden Rettungsanker zu klammern. Die teils abstrusen Promotionen rund um den Black Friday sind Zeugnis dafür.

Zwar klopft man sich allerorts auf die Schultern ob der grossartigen Umsätze. Doch bekanntlich lebt der Handel nicht von Umsatz sondern von Marge. Und der Retail hat sich mutmasslich das Weihnachtsgeschäft selber ziemlich versaut, denn wer will nun noch reguläre Preise zahlen?

Im Rahmen der losen Serie Retail-Vision versuchen wir, Wege aus der Sackgasse aufzuzeigen. Aus der Optik Digital-Commerce. Wir wollen aufmuntern zu radikalen Lösungen!

Denn die Zeit drängt ernorm – keine homöopathische Dosierungen oder Pflästerlipolitik. Und der angekündigte Schweiz-Start von Amazon hat dem Retail wohl abermals 12 Monate Anpassungs- oder Transformations-Zeit entzogen. Sorgt nun jedoch für klare Verhältnisse.

Stirbt das Ladengeschäft aus?

Wahre Warenhäuser sind heute online und die Vorteile von Digital Commerce sind derart erdrückend, dass selbst die Branchenorganisation der Shoppingcenter verlauten lässt:

Das grösste Shoppingcenter ist das Internet.

Doch schliessen nun sämtliche Ladengeschäfte? Wohl nicht und ich bin überzeugt, es wird immer Ladenformate geben. Nur werden diese komplett anders aussehen müssen als heute und es werden deutlich weniger sein.

Doch dafür sind radikale Änderungen unausweichlich. Und eine solche Radikalität beginnt im Kopf. Mit der Erkenntnis, dass sich die Funktion eines Ladengeschäfts durch die Digitalisierung komplett verändert hat. Das ursprüngliche Detailhandels-Konzept und vor allem dessen zur damaligen Zeit bestechenden Vorteile haben sich schlicht und ergreifend pulverisiert.

Informations-Demokratisierung

Vor etwa 15 Jahren schien die Welt noch in Ordnung. Der Detailhandel kontrollierte fast sämtliche Stufen der Customer-Journey und besass das Informations-Monopol weitestgehend.

Er alleine wusste Bescheid über Markt, Sortimente, Preise, Verfügbarkeiten und diktierte bisweilen die Beschaffungsstufen. Der Kunde war dem Einzelhändler regelrecht ausgeliefert.

Durch die Digitalisierung kam die Informations-Demokratisierung. Das Monopol zerbrach und führte zu einer Machtverschiebung und damit zu extrem starken Bürgern, Mitarbeitern und Kunden, um Professor Peter Kruse zu zitieren (3 Minuten die es nach wie vor in sich haben).

Der Rest ist Geschichte und diese Geschichte wurde gerade in den letzten Jahren durch Smartphones, Services & Abos, Devices und neue Technologien immer wieder neu geschrieben in einer zunehmenden Geschwindigkeit: Der (digitale) Kaufprozess: gestern, heute und morgen.

Nur der stationäre Handel, dessen Ladenformate und Konzepte haben sich kaum verändert. Es scheint, als sei da die Zeit stehen geblieben. Und nun werden sie verändert durch die neuen Rahmenbedingungen. Höchste Zeit also, dass sich der Retail auf die verbleibenden Stärken konzentriert und seine neue Rolle antizipiert.

Phasen des stationären Einkaufs

Eine Möglichkeit ist, den stationären Einkauf konsequent in seine einzelnen Schritte und Bestandteile aufzusplitten und adäquat zu abstrahieren, um die wenigen verbleibenden Vorteile zu identifizieren. Und vielmehr, damit der Retail sich seiner neuen Rolle bewusst wird, die er noch spielt.

Ich habe dies in nachfolgender Grafik versucht und dabei bewusst die ganze Kaufanbahnung und -vorbereitungsphase nicht berücksichtigt, die bisweilen bereits mehrheitlich digital erfolgt. Ebenso unberücksichtigt bleibt der Aftersales.

Der Fokus liegt auf einem stationären Einkauf, zerlegt und bewertet in zehn einzelne Phasen begonnen mit dem Betreten des Ladenformats. Die Darstrellung ist idealtypisch für ein Warenhaus-Sortiment (Beauty, Elektronik, Fashion, Home&Living, Lifestyle etc) und adaptiert auch das Premiumsegment. Abweichungen in einzelnen Sortimenten sind selbtstverständlich.

Und notabene gilt dies nur noch für diejenigen Kunden, die den Weg in ein Geschäftslokal überhaupt noch finden. Sichtbarkeit in den digitalen Kanälen vorausgesetzt.

Ein stationärer Einkauf in zehn Phasen - Vor- / Nachteile stationärer und digitaler Einkäufe - Grafik: Carpathia AG 2017
Ein stationärer Einkauf in zehn Phasen – Vor- / Nachteile stationärer und digitaler Einkäufe – Grafik: Carpathia AG 2017

Besass das Konzept Detailhandel in sämtlichen gewählten Phasen früher die Kontrolle, so ging diese mehrheitlich verloren. Nur ist das Problem, dass die heutigen Ladenformate immer noch so funktionieren, als ob sie diese Kontrolle noch hätten.

Die drei primären Stärken die unter der Kontrolle des Retails bleiben oder noch sein könnten, sind die nachfolgenden:

Vorteil: Persönliche Beratung und Experience

Der persönliche Kontakt und die Einkaufs-Experience sind eine Stärke oder besser gesagt, könnten ein Vorteil sein. Bedauerlicherweise hat der Detailhandel diese Vorteile geradezu fahrlässig in der jüngeren Vergangenheit erfolgreich selber abgeschafft und sie den unzähligen Restrukturierungs- und Kostensenkungsprogrammen geopfert.

Curated-Shopping Konzepte wie Outfittery sind bestes Beispiel dafür, wie auch hier die digitale Konkurrenz erfolgreich in diese offene Flanke eingedrungen ist. Gefühlt ist hier (noch) nicht alles verloren und dem Retail könnte es gelingen, hier wieder Terrain wettzumachen. Dafür muss er sich jedoch wieder auf seine Tugenden besinnen, Sortiments- und Beratungskompetenz konsequent aufbauen und ausspielen.

Doch die digitale Konkurrenz rüstet ebenso auf und wird hier weiterhin adäquate Konzepte und Technologien lancieren, die den fehlenden direkten persönlichen Kontakt ebenbürtig ersetzen. Das wird jedoch noch ein wenig dauern, der Retail könnte hier etwas Vorsprung herausholen, wenn auch langfristig der Digital Commerce hier auf Augenhöhe sein wird.

Am Ende wird der Kunde entscheiden, welches Konzept – persönliche Beratung oder gleichwertige technische Lösungen – er bevorzugt. Und dabei sollte nicht vergessen gehen, dass bereits in knapp 3 Jahren die Digital Natives die Mehrheit der aktiven Bevölkerung stellen werden (Nächste Generation ermöglicht Onlineanteil am Detailhandel von 50%).

Vorteil: Produktkontakt und Haptik

Der technisch wohl am aufwändigsten zu ersetzende stationäre Vorteil ist der direkte Produktkontakt und die Haptik. Im Ladengeschäft kann ein Produkt angefasst werden, es kann probiert werden, man kann es anziehen, sich darauf setzten, daran riechen und mehr.

Kurzum, man weiss, was man kauft. Was sich positiv auf Retouren auswirkt. Worauf dem zu entgegnen ist, dass es auch Stationär zu Retouren kommt. Nur nennt man sie dort kaum so. Im Laden wird anprobiert (FMCG ausgenommen) und der Grossteil nicht gekauft . Ein Blick in die „Retouren“ in den Umkleidekabinen spricht Bände, und dabei handelt es sich um relativ teure Retouren, die vom Verkaufspersonal bearbeitet werden, das in der Fläche fehlt oder anders gesagt, auch der stationäre Handel hat ein Retourenproblem.

Oder wie es Samy Bollag (CEO Bollag-Guggenheim) anlässlich des Streitgesprächs der Handelszeitung („Wir haben alle geschlafen„) sinngemäss formulierte:

Der Kunde will probieren und die Ware anfassen. Doch muss das im Laden passieren – oder kann das auch zu Hause geschehen?

Doch lassen wir die Retouren mal beiseite. Auch wenn es technische Tendenzen gibt, die Haptik digital simulieren zu können (zB über taktile Oberflächen) wird hier der stationäre Handel noch etwas im Vorteil bleiben.

Dies heisst aber nicht, dass man Ladenflächen als begehbare Warenlager inszenieren soll, wie heute vielerorts der Fall. Denn um eine Oberfläche zu spüren, ein Material zu fühlen, einen Schnitt zu prüfen oder einen Duft zu riechen ist ein einziges Exemplar des Artikels genügend und es braucht nicht Dutzende Varianten.

Und die Grundsatzfrage bleibt – die sich jeder Händler ehrlich beantworten muss – welche Artikel muss ein Kunde wirklich physisch vor sich haben für den Kauf? Bei Schuhen und Mode wurde das Zalando sei Dank erfolgreich widerlegt. Bei Beauty mag es Gründe geben, jedoch nicht bei Ersatzkäufen.

Bei Möbeln kann man das ansatzweise gelten lassen und auch bei Lebensmitteln können die Sinne angesprochen werden, wobei sich das auf wenige Artikel beschränkt (vergleiche auch Vision Supermarkt 2020 – Die Fläche).

Also, Haptik ja, aber in neuen Inszenierungen und Flächenfomaten.

Vorteil: Unmittelbare Verfügbarkeit

Bleibt der letzte verbleibende Vorteil, die Verfügbarkeit. Gesetztenfalls die benötigte Grösse, Farbe, Speicherkapazität, Verpackungseinheit oder andere Variantenform ist verfügbar, kann der Artikel sogleich mitgenommen, verwendet oder verschenkt werden.

Dies ist jedoch gefühlt immer weniger oft der Fall, da die Flächen aktuell vielerorts zurückgefahren werden und die Variantenvielfalt reduziert wird. Die Flächenreduktion erfolgt ohne radikale Veränderung der Formatkonzepte und unter Berücksichtigung von mehr Logistikompetenz. Doch dazu mehr in einer späteren Folge dieser Serie.

Kommt hinzu, dass gerade die Versandlogistik ein regelrechter Innovationstreiber ist mit drei grundsätzlichen Stossrichtungen.

  1. Die Zustellungen werden immer genauer, planbarer und kontrollierbarer. Akkurate Lieferfenster, Voravisierungen und die Möglichkeit, die Sendung  zu steuern und umzurouten sind schon beinahe an der Tagesordnung.
  2. Die Lieferung erfolgt immer schneller. Länger als 1-2 Tage wartet heute kaum noch jemand und die Zustellung gleichentags (Same-Day-Delivery) erfreut sich einer immer grösseren Beliebtheit.
  3. Der Handel will die Kontrolle über die letzte Meile erlangen und entwickelt eigene Logistik-Konzepte und -Einheiten. Oder neue Player dringen in den Markt ein, seien es Branchenfremde wie Autohersteller (Mercedes Drohnen für Siroop), Kooperationen (Steg liefert mit Pizza-Kurieren) oder Startups wie NoTime.

Der Online- und Versandhandel tut aktuell alles daran, auch diesen Vorteil des stationären Handels zu neuralisieren mit dem Ziel, so schnell und exakt zu liefern, dass ein Gang in das Warenhaus oder Shoppingcenter obsolet wird.

Fazit: Letzte Vorteile und Stärken schmelzen dahin

Mit Blick auf die zehn Phasen des stationären Einkaufs konnte ich nur bei deren vier den stationären Handel im Vorteil gegenüber dem Digital Commerce identifizieren. Und diese vier Phasen finden sich in den oben ausführlich beschriebenen 3 Vorteilen wieder.

Kommt hinzu, dass die Stärke der unmittelbaren Waren-Verfügbarkeit durch den stationären Rückbau und die Logistik-Innovationen in Bälde keine mehr ist und es zudem fraglich ist, ob der Detailhandel die persönliche Beratung in der geforderten Geschwindigkeit wieder hochfahren kann, bevor die Mehrheit der Konsumenten mehr Gefallen gefunden hat an den digitalen Möglichkeiten.

Bleibt die Produkt-Präsentation zusammen mit der Haptik wie auch der Inszenierung, Ambiance und Experience. Hier dürfte wohl der wa(h)re Vorteil noch liegen, der Stationär hat.

Dies bedingt jedoch konsequent andere Flächenkonzepte und einen radikalen Kulturwechsel. Denn wenn das Selbstverständnis in der Fläche nicht unmittelbar reift, dass der stationäre Handel nur noch ein Teil im grossen Detailhandels-Puzzle ist, werden auch die letzten verbleibenden Stärken zu Makulatur.

Diese Retail-Vision Serie baut sukzessive auf diesen Erkenntnissen auf und wird entsprechende strategische Handlungsempfehlungen ableiten. Weiter Ansätze zur neuen Rolle des Retails definieren und vor allem auch aufzeigen, was man vom Digital Commerce lernen kann und wie hybride Geschäftsmodelle konzipiert werden müssen.



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Thomas Lang, Betriebsökonom und Wirtschaftsinformatiker, unterstützte Unternehmen bei der Strategieentwicklung von digitalen Vertriebsmodellen, beim Aufbau von digitalen Geschäftsmodellen, bei Expertisen rund um Onlinehandel und der operativen Umsetzung im Bereich Organisation, Prozesse, Innovation, Change-Management und Unternehmenskultur. Er ist Gründer der Carpathia AG, der unabhängigen und neutralen Unternehmensberatung für Digital-Business, E-Commerce und Digitale Transformation im Handel. Zudem ist er Autor von zahlreichen Fachartikeln und -studien, Dozent für Online-Vertriebsmodelle an verschiedenen Hochschulen sowie gefragter Keynote-Speaker zu E-Commerce und Digital Transformation im Handel. Er ist Initiator und Organisator der Connect - Digital Commerce Conference sowie des Digital Commerce Awards. Der von ihm gegründete Carpathia Digital-Business-Blog (https://blog.carpathia.ch) zählt im deutsch-sprachigen Raum zu den wichtigsten unabhängigen Publikationen im Digitalen Handel. Medien bezeichnen ihn als digitalen Vordenker, zitieren und interviewen ihn regelmässig . Am Mittwoch 17. November hat Thomas Lang für immer die Augen geschlossen.

6 KOMMENTARE

  1. Zum Thema «Haptik» eine Anekdote aus dem stationären Handel: Ich will einen Baumwollpullover kaufen und merke, dass es sich beim anprobierten Modell trotz der Materialbeschreibung auf der Etikette keinesfalls um Baumwolle handelt. Die Verkäuferin entgegnet: «Doch, das ist Baumwolle, es steht hier.» Der zu Hilfe geholte Eigentümer der eher teuren Boutique dann: «Klar. Ist falsch deklariert» und legt den Pullover ungerührt wieder ins Gestell. Meine etwas irritierte Nachfrage quitttiert er mit den Worten «Sie und ich merken das. Aber meine Girls haben doch keine Ahnung und die meisten Kunden sowieso nicht.

  2. Vielen Dank für den gut geschrieben Artikel. Ist der erste von Ihnen den ich gelesen habe, freue mich auf mehr.
    In einem gewissen Sinn hinkt der Artikel aber der Realität hinterher; eine gute Kombination aus Online und Stationär scheint doch eher die Zukunft zu sein als nur eines von beiden, denken Sie nicht? Ich bin mir sicher, dass Sie mich mit einem nächsten Artikel genau zu dem Thema überraschen werden.

    • Willkommen unter den Lesern. Gerne empfehlen ich Ihnen die diversen Artikel zum Thema „Weckruf“ oder „Shopping-Center“ und Sie werden im Nu feststellen, dass die Realität leider (noch) eine ganz andere ist. Die weiteren Themen dieser Serie basieren auf einer guten Kombination zwischen On- und Offline. Dazu muss man jedoch die jeweiligen Stärken kennen, wofür dieser Artikel steht.

  3. Ein spannender Artikel der in sehr vielen Bereichen Gültigkeit hat. Auf der einen Seite sind die Lebensmittelgeschäfte die durch die wachsende Sortiment und das als ‚Innovation‘ verkaufte ‚Selfscanning‘ den Eindruck einen begehbaren Warenlagers, wie Sie es treffend bezeichnen, noch verstärken (siehe Mail of Switzerland) und auf der anderen Seite die kleineren Fachgeschäfte (Foto, Elektronik, Reisebüro, ..) die nicht damit umgehen können, wenn der Kunde bereits vorinformiert den Laden betritt. Spannend finde ich zudem, dass durch die ständig einfacher werdende Usability im Online-Bereich zunehmend auch komplexe und teurere Produkte online recherchiert oder sogar gekauft werden (Versicherungen, Uhren, Autos). Bin gespannt auf die weiteren Artikel zu diesem Thema.

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