Würgen Schweizer Politiker den boomenden E-Commerce mit einem untauglichen Widerrufsrecht ab?

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Schweizer ParlamentAnders als umliegende Länder der EU kennt die Schweiz kein Widerrufsrecht im Distanzhandel. Die einzige Möglichkeit, einen Kauf innert gesetzlicher Frist zu widerrufen, ist im sog. Haustürverkauf nach OR Art 40a ff geregelt.

Dies will nun eine parlamentarische Initiative ändern und plädiert unter dem Deckmantel des Konsumentenschutzes für ein Widerrufsrecht, dass insbesondere auch im Versandhandel und damit auch im E-Commerce Gültigkeit haben soll.

Der Vorentwurf zur Änderung / Ergänzung des oben erwähnten Artikels 40 des Schweiz. Obligationenrechts (OR) liest sich denn auch wie ein Abwürgeprogramm des erfolgreichen hiesigen Onlinehandels (PDF). Ähnlich wie bspw. in Deutschland soll die Frist beim neuen Widerrufsrecht in der Schweiz ebenfalls 14 Tage betragen, laufend ab Empfang der Ware und vollständiger Belehrung.

Wer sich den Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 23.8. zu Gemüte führt (PDF), wird als Onliner Gefahr laufen, die eine oder andere schlaflose Nacht vor sich zu haben. Ein paar Beispiele daraus:

Auktionen sollen vom geplanten Widerrufsrecht betroffen sein

Zudem wird ausdrücklich darauf verzichtet, eine Ausnahme für Versteigerungen aufzunehmen. (…) Es wäre nicht nachvollziehbar, wenn der gewöhnliche Onlinekauf widerrufen werden könnte, die OnlineVersteigerung dagegen nicht, obwohl dort aufgrund des gegen Ende einer Versteigerung regelmässig bestehenden Zeitdrucks die Gefahr eines übereilten Vertragsschlusses am grössten ist.

Damit wären rund CHF 850 Mio. Umsatz der beiden C2C-Anbieter Ricardo und eBay in der Schweiz in Gefahr.

Auch ein Widerrufsrecht auf (geöffnete!) physische Datenträger wie Software, Audio und Video

Audio- oder Videoaufzeichnungen sowie Software, die auf dauerhaften Datenträger gespeichert sind, stellen bewegliche Sachen dar und sind nicht vom Widerrufsrecht ausgenommen. Dies in Abweichung vom Gemeinschaftsrecht, gemäss welchem das Widerrufsrecht entfällt, wenn die Ware in einer versiegelten Packung geliefert worden ist und die Konsumentin oder der Konsument die Versiegelung nach der Lieferung entfernt hat (Art. 16 Bst. i Verbraucherrechte-RL). Ein derartiger Ausschluss würde die Konsumentinnen und Konsumenten in einem wichtigen Bereich zu stark benachteiligen: Eine Beurteilung der Ware kann erst nach einer Entsiegelung der Packung vorgenommen werden.

Hingegen sind Download-Artikel mit einer Sonderregelung im geplanten Artikel OR 40h ausgenommen – dies als klarer Widerspruch zu den physischen Datenträgern oben, was eine erstaunlich veralteten Denke offenbart; also ob man als „Ware“ den Datenträger und nicht den Inhalt erwirbt.

Oder wann gefällt einem ein Musikstück, ein Hörbuch oder eine Software nicht, bei der – notabene optischen – Beurteilung der Polycarbonat-Scheibe oder beim Inhalt? Auf jeden Fall wird eine solch abstruse Regelung die Digitalisierung nur beschleunigen – inklusive Arbeitsplatzabbau im Handel und intl. Download-Möglichkeiten, notabene ohne Schweizer MwSt.

Die Bestimmung enthält eine besondere Regelung für digitale Produkte (Software, Ton-, Bild- und Textdateien), die der Konsumentin oder dem Konsumenten unabhängig von einem festen Datenträger übermittelt werden (insbesondere downloads über das Internet oder das Mobilfunknetz). (…) entfällt das Widerrufsrecht, da der Anbieter im Falle eines Widerrufs keine Kontrolle darüber hätte, ob die Daten nicht weiterhin benutzt würden.

Hintertür Tagespreise

Kommt dieser Vorschlag auch nur annähernd durch, wie angedacht, dann gibt es nur einen Ausweg – die Schweiz wird ein Land der Tagespreise! Denn hierzu gibt es eine geplante Ausnahme. des Widerrufsrechts. Und ob dies dann im Sinne des Konsumentenschutzes ist?

Danach entfällt das Widerrufsrecht bei Geschäften mit einem Zufallselement, d.h. etwa dann, wenn der Preis der Sache oder Dienstleistung Schwankungen unterliegt, auf die der Anbieter keinen Einfluss hat.

Die Branche muss sich organisieren!

Damit nicht wie in Deutschland auch hierzulane ein ähnliches Fiasko wie bei der Buttonlösung und weiteren Themen droht, muss sich die Branche schnellstmöglich organisieren und hier entschieden dagegen treten. Wer nimmt das Heft in die Hand?

Nachtrag:

Der Verband der Schweizer Versandhändler geht ebenfalls mit dem Vorschlag hart ins Gericht und weist korrekterweise darauf hin, dass seit über 20 Jahren mit seinem Ehrenkodex ein Rückgaberecht im Online-Versandhandel unterstützt wird und stellt fest, dass das Rückgaberecht in der Schweiz normaler Bestandteil des Online-Versandhandels ist, Ausnahmen sind sachlich begründet und stellen im Markt in keiner Weise Probleme dar.



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Thomas Lang, Betriebsökonom und Wirtschaftsinformatiker, unterstützte Unternehmen bei der Strategieentwicklung von digitalen Vertriebsmodellen, beim Aufbau von digitalen Geschäftsmodellen, bei Expertisen rund um Onlinehandel und der operativen Umsetzung im Bereich Organisation, Prozesse, Innovation, Change-Management und Unternehmenskultur. Er ist Gründer der Carpathia AG, der unabhängigen und neutralen Unternehmensberatung für Digital-Business, E-Commerce und Digitale Transformation im Handel. Zudem ist er Autor von zahlreichen Fachartikeln und -studien, Dozent für Online-Vertriebsmodelle an verschiedenen Hochschulen sowie gefragter Keynote-Speaker zu E-Commerce und Digital Transformation im Handel. Er ist Initiator und Organisator der Connect - Digital Commerce Conference sowie des Digital Commerce Awards. Der von ihm gegründete Carpathia Digital-Business-Blog (https://blog.carpathia.ch) zählt im deutsch-sprachigen Raum zu den wichtigsten unabhängigen Publikationen im Digitalen Handel. Medien bezeichnen ihn als digitalen Vordenker, zitieren und interviewen ihn regelmässig . Am Mittwoch 17. November hat Thomas Lang für immer die Augen geschlossen.

9 KOMMENTARE

  1. Nachdem „wir“ es nichtmal in der EU schaffen ein einheitliches Widerrufsrecht einzufuehren, und jedes Mitglieds-Land sein eigenes Sueppchen kocht – soll auch die Schweiz ihr eigenes Widerrufsrecht haben duerfen ; )

    ps: die europaeische Agenda: „eine Harmonisierung des Online-Handels ist bis 2020 geplant“ . . . X ))

    Montag-Morgens ist es einfach noch zu frueh sich ueber Politik aufzuregen.

    • Danke; es sollte jedoch nicht als „neoliberale Hetze“ rüberkommen. Die Frage stellt sich einfach, wie viel Verantwortung darf man einem Individuum zutrauen und wie „ungeschützt“ hat man sich in den vergangenen 150 Jahren Versandhandel gefühlt? So lange gibts das Versandmodel schon, von dem man den Normalbürger nun plötzlich schützen muss.

  2. Gut gefragt, lieber Autor:
    „Würgen Schweizer Politiker den boomenden E-Commerce mit einem untauglichen Widerrufsrecht ab?“
    Ein blick über die nördliche Grenze genügt, um einfach zu sehen, wie ein untaugliches Widerrufsrecht aussehen kann.

  3. Spannend. Konsumentenschutz ist sehr wichtig. Schliesslich sind wir alle Konsumenten. Auch Unternehmer….
    Ich stell mir nur jetzt grade vor, wie eine unserer individuell und von Hand hergestellten Schoggitafeln für genau den 1 Kunden, welcher sie kreiert hat, genüsslich zu Hause von Ihm „probiert wird“ und dann bei ca. der Hälfte wieder eingepackt und an uns zurück geschickt wird, mit der Aufforderung, wir mögen Ihm doch bitte die Hälfte des Preises wieder auf der Kreditkarte gutschreiben. Es sei dann doch zu viel gewesen…. 🙂

    • Hi Sven
      Da seit Ihr woll fein raus, denn es sind ja wenige Ausnahmen vorgesehen, u.a. bei individuell für den Kunden hergestellten „auf Mass“ Produkten. Da dürftet Ihr wohl drunter fallen. Im Entwurf wäre das Artikel 40f (PDF)

  4. Konsumentenschutz gegen Haustür- und Telefonverkaufabzocker – o.k.
    Die den gesamten Versand- bzw. Onlinehandel erfassende nachtwächterstaatliche ‚Erleichterung‘ des Konsumenten von selbst geringfügiger Eigenverantwortung wäre allerdings ein starkes Stück. Bzw. sie ist es ja längst speziell in Deutschland auf teils bizarre Weise. Und die deutsche Praxis ist längst im Begriff, unsere Inlanddiskussion zu überrollen:

    http://www.shopbetreiber-blog.de/2012/10/02/ausland-ebay-haendler-deutsches-widerrufsrecht/

    Mit der Erklärung deutscher Gerichte, auch für Auslandskäufe deutscher Konsumenten bzw. in Streitfällen zwischen deutschen Abmahnern und ausländischen Abgemahnten zuständig zu sein, wird jede weitere hiesige Rechtsdebatte zur Farce.
    Tatsache ist, dass bis auf wenige Marktsegmenten (solche, die wie LeShop nur inländisch ausgerichtet sind) die überwiegende Mehrheit Schweizer Onlinehändler auf den Export angewiesen ist, weil der Inlandmarkt zu klein ist. Umliegende Länder ausdrücklich nicht zu beliefern, um Problemen mit den dortigen Rechtssystemen aus dem Weg zu gehen, können sich nur die wenigsten leisten. Somit müssen sie sich (vor allem) der deutschen Rechtslage anpassen, um nicht Gefahr zu laufen, Opfer des bizarren deutschen Abmahnwesens zu werden.
    Man muss sich nur mal wahllos Schweizer Shops ansehen: fast jeder bietet zahlreiche Ansätze zur Abmahnung nach deutschen Massstäben.
    Es dürfte eine Frage nur ganz kurzer Zeit sein, bis eine deutsche Abmahnwelle ins Land schwappt, die solche ‚Mängel‘ auszunutzen und abzukassieren trachten wird.

    Toller ‚gemeinsamer‘ europäischer Online-Markt…

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