Schauen Sie auch nach Kalifornien, genauer gesagt ins Silicon Valley?
Alle schauen sie dorthin, weil die anderen alle auch dorthin schauen.
CEOs pilgern dorthin. Fahren Safari im Valley. Weil das gerade hip ist. Kommt gut an im Aufsichtsrat, bei den Investoren, bei der Presse, bei der Belegschaft, im Golfclub.
Und dort in Kalifornien, dem Gliedstaat der USA, der losgelöst betrachtet die achtgrösste Wirtschaftsmacht der Welt darstellt, sind sie innovativ, ja unglaublich innovativ. Disrupten ganze Branchen. Eine nach der anderen. Forschen forsch an Dingen, die die Vorstellungskraft von Normalsterblichen überfordern.
Sie forschen. Sie entwickeln. Sie testen. Drohnen, Roboter, selbstfahrende Autos, künstliche Intelligenz, Raketen fliegen in den Weltraum und kommen zurück. Landen wieder kerzengerade auf unbemannten Booten. Wahnsinn!
Wahnsinn? Kann man so sehen. Ich selber finde das unglaublich interessant und verfolge es mit höchster Aufmerksamkeit.
Und trotzdem – Ja, es ist Wahnsinn! Und der Wahnsinn hat zwei Gesichter
Technologie-Wahn
Der ganze Technologie Wahn macht mich wahnsinnig. Ich glaube, ich darf mich in vielen Belangen zu den Early Adaptors zählen. Doch was in vielen Chef-Etagen gerade abgeht, ist nahe dem Wahnsinn.
Es ist die wahnsinnige Vorstellung, dass Technologie Probleme lösen wird. Das wird sie zwar, doch oft nicht so, wie es sich die Herren in den gut sitzenden Anzügen vorstellen.
- Ein cooler Onlineshop wird nicht die Herausforderungen meistern, welche an fundamental zu verändernde Vertriebskonzepte gestellt werden.
- Eine neue CRM-Anwendung wird nicht die dringend benötigte ehrliche auf Augenhöhe ausgerichtete Kundenansprache neu definieren.
- Eine geile performance-orientierte digitale Kampagne wird altbackenes Marketing-Verständnis nicht ausrotten.
- Ein sündhaft teures ERP- oder PIM-System wird weder hanebüchene Prozesse noch lausige Datenqualität vergolden.
Da ist man fast geneigt das grandiose Zitat zu wiederholen vom Gipfel der SZ. Es stammt von Thorsten Dirks, CEO der Telefónica Deutschland AG:
„Wenn sie einen Scheißprozess digitalisieren,
dann haben sie einen scheiß digitalen Prozess.“
Technologie ist Mittel zum Zweck. Immer! Technologie muss enablen und darf nie das primäre Ziel sein.
Und wer seine Wertvorstellungen und seine Unternehmenskultur nicht gleichzeitig fundamental verändern kann, dem wird die Technologie genau eines bringen. Nichts.
Wer nicht bereit ist, heute drastische Veränderungen jeglicher Art in seinem Unternehmen zu forcieren – ohne Rücksicht auf Bestehendes – und wer sich denkt, die letzten 10 Jahre seiner Karriere noch gemütlich durchzusitzen auf dem, was man mit eigenem Schweiss erschaffen hat, der setzt sich und die Existenz seines Unternehmens dem Wahnsinn wehrlos aus.
Wahnsinniger Durst
Doch der eigentliche Antrieb für diesen Artikel ist der Wahnsinn, den die Silikon-Talbewohner tagtäglich offenbaren. Sie überbieten sich mit Innovationen während gleichzeitig ihr Duschwasser rationiert wird.
Sie organisieren Milliarden-Finanzierungen für neue Geschäftsmodelle währenddessen ihr Pool-Boy diversifiziert und neu die braunen Rasen vor dem Haus mit grüner Farbe wieder aufhübscht.
Oder mal anders gesagt. Kalifornien durchlebt jedes Jahr die schlimmste Dürre seit Menschengedenken und hat gleichzeitig über 1’000 Kilometer Küste zum Pazifik mit Milliarden von Gallonen Wasser. Silicon Valley und Pazifik sind gerade mal ein paar Dutzend Meilen entfernt.
(weitere sehr eindrückliche Vorher/Nachher Darstellung von kalifornischen Wasserquellen findet man bei Welt.de)
Es ist doch schlichter Wahnsinn, dass die kombinierte Intelligenzia von Silicon Valley an Robotik etc. forscht, währenddessen die kalifornische Bevölkerung und Landwirtschaft vor Wassermangel beinahe verreckt.
[bctt tweet=“Silicon-Valley Intelligenzia forscht lieber an Robotik statt an Meerwasser-Entsalzung.“ username=“carpathia_ch“]
Für mich unverständlich, dass dieser konzentrierte Brainpower nicht in der Lage ist, wenigstens einen Teil seiner Energie in die Entwicklung von modernen Entsalzungsanlagen zu investieren.
Das muss doch verdammt nochmal möglich sein. Und, dass anstatt der bewunderte Mark Zuckerberg den afrikanischen Kontinenten mit Satelliten für flächendeckenden Internetzugang überzieht wäre es doch ein (noch) grösserer Verdienst an der Menschheit, eine anständige Trinkwasserversorgung auf die Beine zu stellen. Eben mit der Technologie, mit der man auch das Leben vor der eigenen Haustüre retten kann.
Und dass mir nun keiner mit Effizienz kommt. Ja, aktuelle Entsalzungsanlagen gelten als nicht besonders energieeffizient. Doch Effizienz ist ja bei der Modellierung von neuen Geschäftsmodellen oder dem Bau von Giga-Factories im Tal des Silikons wie ein schlechter Treppenwitz.
Zwar haben die verstärkten Regenfälle etwas Entspannung in den vergangenen Wochen gebracht, doch die Prognosen sind weiterhin düster.
Kalifornien pumpt seit Jahren Millionen von Gallonen Wasser über Tausende von Kilometern heran. Und nebenbei füllt Nestlé für ein Butterbrot Millionen von Flaschen mit Trinkwasser ab und verkauft der Bevölkerung deren eigenes Wasser wieder – jährlich 2.7 Milliarden Liter.
Das erachte ich als Wahnsinn, dass es die Technologie nicht schafft, vorrangig oder wenigstens zweitrangig fundamentalste Probleme zu lösen wie dem einfachen Entsalzen von Meerwasser das quasi vor der Haustüre liegt. Und mit „einfach“ meine ich sicher nicht komplexer als all das, was wir in den vergangenen Monaten an neuen Robotik-und AI-Innovationen erfahren durften.
Doch nun wieder zurück zu den Silicon-Valley Safaris in den Teppich-Etagen und dem Durst nach neuen Technologien.
Wer bis jetzt durchgehalten hat, dem sei noch das hervorragende Zitat von Manuel Nappo aus der Handelszeitung in diesen wunderschönen September-Sonntag mitgegeben.
Spruch des Tages @manuelnappo @Handelszeitung ‚Vergessen Sie den Glanz des Silicon Valley! Gehen Sie an die Arbeit!‘ pic.twitter.com/32QSv6ZYCT
— Sven Ruoss (@SvenRuoss) 1. September 2016
Background; Thomas Lang lebte insgesamt 5 Jahre in Kalifornien und verbringt jährlich mehrere Wochen im Südwesten der USA. Er ist ein kritischer Beobachter der Entwicklungen.
Spannende Gedanken von Thomas Lang – die Techbranche ist leider auch von Gier und Macht besessen wie alle anderen Branchen. Es geht eben nicht um Prozesse und Technologien die die Welt verbessern, retten oder nachhaltiger machen – es geht um Millionen und Gewinne. Wie man dies umstellen könnte, dass es eben nicht um Profit und Gier geht – das müsste man mal beforschen – aber eben – auch dies lockt nicht mit dem grossen Gewinn auf dem Bankkonto… Aber ein Lichtblick bleibt ja (ketzerisch gesehen) – wenn alles dann optimiert und automatisiert ist, dann braucht es uns ja dann gar nicht mehr… dann ists auch nicht so schlimm wenn der Mensch bis dann verdurstet ist – hauptsache der elektronische Grabstein läuft dann noch in Afrika auf dem Friedhof und zeigt die Bilder des Verstorbenen in HD Qualität mit W-Lanconnection. Es braucht also gesunder Menschenverstand, rsp. diesen sollten wir fördern und fordern… und im Gegenzug die Gier und Machtgelüste entkräften – und da kann man gerne auch mal beim Wasserabfüllen von Nestle beginnen. Ein grosses Thema also von Thomas Lang, dass leider an diesem schönen Septembersonntag nicht auf die Schnelle zu lösen ist.
Lieber Thomas, wo du Recht hast, hast du Recht. Guter Artikel. Danke. Jörg Eugster
sehr lesenswert. oder wie es ein Redner sagte, der an der SWSX dieses Jahr wagte, den Techies endlich mal ins Gewissen zu reden: ihr redet immer davon, die Welt besser zu machen, aber eben nur wenn es einen „Business Case“ dazu gibt. Wenn etwa das Grundwasser mit Blei verseucht ist, soll’s ein anderer machen.
Vielen Dank für den lesenswerten Beitrag. Schön auch mal wieder kritische Gedanken zum Silicon Valley zu lesen.
Weil es eben nicht darum geht die Welt besser zu machen… werden hierzulande auch Apps zur „Reduktion“ von Foodwaste programmiert, bei der die Gastronomie ihre „last Minute – letzte Reste“ verkaufen kann und jede Foodwaste-Box 1 Euro Provision bringt, während in anderen Ländern NGOs dafür sorgen, dass die Reste an Bedürftige verteilt werden….
Interessanter und spannender Text. Wie hat es Gandhi schon gesagt: Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier. Oder: Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.
Sehr schöner und treffender Artikel. Insbesondere da er (auch) von einem Techie-Begeisterten Menschen kommt, der destotrotz immer noch Herz & Verstand hat und der kritischen Reflektion fähig ist.
Leider ist das Weltraum besiedeln halt hipper als den Durst der Menschen zu löschen.
Behaupte, wer die effiziente Entsalzungsanlage erfindet, wäre der wahre Held – der Menschen, wahrscheinlich jedoch nicht der Börse (& Unternehmen).
Gerade Nestle & co würde da alles dagegen tun:
Günstiges sauberes Wasser – einen Albtraum für paar Manager, einen Traum für Millionen Menschen!
Ich bin Jahrgang 64, bin auf dem Land aufgewachsen, es fehlte uns an nichts und wir konnten auf der Strasse noch unbekümmert Spielen. Es macht mir manchmal Angst, wie gierig manche Menschen und Konzerne nach noch mehr, mehr und mehr sind. Ich war einmal ganz unten, ich weiss wie es ist nichts zu haben und von unter Null wieder ein normales Leben aufzubauen. Auch ein Mark Zuckerberg hat nichts anderes im Sinn als noch mehr, mehr und mehr. Ist es wirklich notwendig dass man auch noch in der hintersten Ecke Internetzugang hat? Ich denke, dass dies eines der kleinsten Probleme ist welches wir haben. Auch wenn es im Moment hipp ist, sein Geld in die Raumfahrt zu investieren, leider braucht der Mensch diese Hippster, einen anderen Weg gibt es nicht mehr, der Mensch muss in den Weltraum vordringen will er weiter existieren. Ob der Mensch dereinst noch aus Fleisch und Blut besteht oder nur noch virtuell? Soll ich froh sein dies nicht mehr zu erleben?