Digitalisierung! Eine Sau wird durch’s Dorf getrieben

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Seit Jahrzehnten war die Rede von E-Commerce, Mobilen Vertriebskonzepten, elektronischen Geschäftsprozessen, E-Procurement, E-Business, Online-Kommunikation, Social-PR und -CRM, Social-Media Dialog, Crowd-Funding und -Innovation sowie vielem mehr. Und ebenso viele haben nie wirklich begriffen, um was es eigentlich geht.

HEUREKA! Und die (Berater)Welt scheint nun endlich das Allerheils-Buzzword gefunden zu haben, auf welches alle so sehnlichst gewartet haben: DIGITALISIERUNG!

Es wissen zwar immer noch genau so wenig, was es damit effektiv auf sich hat. Aber hey, es ist cool, es ist hip, es ist digital.

Digitalisierung ist das neue „E“

Und seit gefühlten 12 Monaten wird auf einmal alles Digital.  Alles redet von Digital und so manches Geschäftsmodell wird digitalisiert, in dem man ganz einfach vorne 7 Buchstaben hin kleben tut.

Plötzlich schwadronieren alle über digitale Strategien, gründen digitale Hubs, bauen digitale Venture-Einheiten, spenden investieren in digitale Startups oder holen sich selber die Digitalisierung in homöopathischen Dosen auf einer Safari durchs ach so digitale Silicon Valley (Technologie-Durst oder sie werden noch verrecken im Silicon Valley!).

Und die etwas älteren Semester die es nicht mehr so gut haben können mit den 9 Stunden Zeitdifferenz bevorzugen einen Trip in der Business-Class nach Berlin und lassen sich durch die Digitale Startup-Szene im klimatisierten Bus chauffieren.

Kaum zurück, wird dann die Bullshit-Bingo Buzzword Bibliothek auf 4.0 aktualisiert und man palavert plötzlich von Disruption und wie man den Markt ab gestern morgen disrupten möchte. Und selbstverständlich geizt man nicht mit der Ankündigung von Innovationen die bei näherer Betrachtung genau genommen alter Wein in neuen Schläuchen sind.

Nur sind halt die Schläuche jetzt digital. Und Innovation hat so wenig zu tun mit Disruption wie die Geburtenrate mit der Population von Störchen. Oder es wird halt Disruption gepredigt und Innovation gelebt.

Elektrifizieren vs. Digitalisieren

Matthias Schrader hat dies vor einiger Zeit mal treffend differenziert zwischen Elektrifizieren und Digitalisieren.

Wenn nun die B2B Aussendienst-Mitarbeiter neu mit Tablets statt Bestellblock durch die Lande ziehen und ihre Rabatte Produkte verkaufen.

Wenn nun beim Fashion-Anbieter an der Highstreet in Downtown nun Touch-Terminals statt Style-Berater weiterhin die abgestandene Raumluft verbrauchen.

Wenn nun die Schaufenster mit QR-Codes statt Weihnachtskugeln dekoriert werden.

Dann ist das alles andere Digitalisierung sondern schlicht und einfach Elektrifizierung.

Was fehlt? Das radikale Hinterfragen bestehender Konzepte und Modelle. Das Abschneiden alter Zöpfe. Das rigorose Eliminieren von Wertschöpfungs-Stufen und –ketten die den eigentlichen „Wert“ schon lange verloren haben. Das Business komplett neu zu denken ohne Wenn und Aber.

Digitalisierung wird weh tun. Digitalisierung muss weh tun. Selbst der letztes Jahr verstorbene Prof. Dr. Peter Kruse nannte es eine Revolution (3 Minuten die es in sich haben!)

Digitale Revolution

Nochmals zurück zur Konzernspitze, welche braungebrannt retour von der Safari im Silicon Valley oder Currywurstduft-geschwängert zurück aus Berlin ist und nun voller Tatendrang 2-3 Nerds mit Bart und Brille für die zentrale Unternehmens-Entwicklung rekrutiert.

Und danach zum Tagesgeschäft übergeht und voller Überzeugung ist, dass nun alles gut werde. Nur eben digital und disruptiv! Hätten diese ehrenwerten Herren eines begriffen:

[bctt tweet=“Disruption heisst eigentlich für die 55+ Chef-Etage: sofort geschlossen zurücktreten!“ username=“carpathia_ch“]

"Alles wird Gut" - Graffiti auf dem 1991-1993 besetzten Wohlgroth Areal in Zürich - Quelle: Rita Lynn
„Alles wird Gut“ – Graffiti auf dem 1991-1993 besetzten Wohlgroth Areal in Zürich – Quelle: Rita Lynn

Denn Digitalisierung erfordert ein radikales Umdenken

Erfordert einen radikalen Schnitt mit der Vergangenheit wenn sie denn erfolgreich sein soll. Und das perfide daran ist, es bleibt weder kaum noch Zeit noch müssen die Veränderungen in einer kaum je dagewesenen Geschwindigkeit durchgezogen werden.

Und da liegt genau auch die Krux. Unsere Chef-Etagen sind übervoll mit verdienten Unternehmenslenkern die noch ein paar aktive Jahre haben. Die sich jahrzehntelang für das Unternehmen eingesetzt haben, entsprechend erstrebenswerte Positionen besetzen dürfen und nun zur Belohnung den prestigeträchtigen Parkplatz vor der Türe für ihre Oberklassen-Limousine nutzen dürfen um es etwas plakativ auszudrücken (Lesetipp: Männer die auf Parkplätze starren)

Ist es diese Generation, die das Steuer nochmals rumreissen wird? Die alte Seilschaften kappen wird? Die äusserst unpopuläre Entscheidungen treffen wird? Die nochmals so viel Energie aufwenden und sich kurz vor dem Ruhestand mit unzähligen Konflikten und Problemen konfrontieren wird?

Diese Antworten hierzu soll sich jeder Leser selber bilden und die Folgen dazu ableiten.

Wenn nun alle – von den Unternehmensberatungen die noch dem Fax eine goldene Zukunft vorausgesagt haben bis hin zu Werbeagenturen die noch die Umschulung von den Schriftsetzern erlebt haben – von „Digital-Apps-Digital-Snap-Digital-Disruption-Digital“ reden, dann soll man sich eines merken.

Digitalisierung: Auslöser - Transformation - Ziele (Quelle: Carpathia AG)
Digitalisierung: Auslöser – Transformation – Ziele (Quelle: Carpathia AG)

Digitalisierung in Unternehmen hat wenig mit Technologie zu tun noch wird entsprechende Kompetenz zum alleinigen Rettungsanker. Selbstverständlich ist sie (auch) ein Auslöser, aber sie ist kaum die Lösung.

Vielmehr ist es die Kultur des Unternehmens und die Menschen dahinter, welche einen „Major Upgrade“ benötigt. Und der ist alles andere als einfach und mit Widerständen gespickt.

Es braucht auch hier dringend eine Revolution – Evolution alleine reicht nicht.

Disclaimer: Carpathia bezeichnete seine Tätigkeiten seit 1999 als „E-Business Consulting“ und änderte diese Bezeichnung ebenfalls „notgedrungen“ auf „Digital Business“ im Sommer 2015. Zudem organisierte Thomas Lang in seiner Tätigkeit als Managing Director eines Reiseveranstalters in Los Angeles bereits vor dem Millenium Reisen durch das Silicon Valley.



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Thomas Lang, Betriebsökonom und Wirtschaftsinformatiker, unterstützte Unternehmen bei der Strategieentwicklung von digitalen Vertriebsmodellen, beim Aufbau von digitalen Geschäftsmodellen, bei Expertisen rund um Onlinehandel und der operativen Umsetzung im Bereich Organisation, Prozesse, Innovation, Change-Management und Unternehmenskultur. Er ist Gründer der Carpathia AG, der unabhängigen und neutralen Unternehmensberatung für Digital-Business, E-Commerce und Digitale Transformation im Handel. Zudem ist er Autor von zahlreichen Fachartikeln und -studien, Dozent für Online-Vertriebsmodelle an verschiedenen Hochschulen sowie gefragter Keynote-Speaker zu E-Commerce und Digital Transformation im Handel. Er ist Initiator und Organisator der Connect - Digital Commerce Conference sowie des Digital Commerce Awards. Der von ihm gegründete Carpathia Digital-Business-Blog (https://blog.carpathia.ch) zählt im deutsch-sprachigen Raum zu den wichtigsten unabhängigen Publikationen im Digitalen Handel. Medien bezeichnen ihn als digitalen Vordenker, zitieren und interviewen ihn regelmässig . Am Mittwoch 17. November hat Thomas Lang für immer die Augen geschlossen.

15 KOMMENTARE

  1. Wie wahr.
    Erfolgreiche Digitalisierung heisst ein Höchstmass an Alignment der Interessen und Einbezug aller (künftigen) Stakeholder mit konsequenter Automatisierung und ebenso konsequenter Entsorgung liebgewordener Strukturen und Prozesse.
    Und noch nie dagewesener Symbiose zwischen Mensch und Technik. Da helfen Technologie und Neuroscience – sobald „mentale Altlasten“ aus dem Weg geräumt sind.
    Elektrifizierung war gestern – jetzt ist eine neue Qualität von Leadership gefragt.
    Danke für den wichtigen Artikel!

  2. Eigentlich hätten wir es wissen können;-( https://medium.com/@business_inno/das-management-der-digitalen-transformation-f5d818bfbdc6#.fndgclkes

    Ich habe den Begriff e-business nie gemocht, da durch digitale, früher auch neue Medien genannt, neue Geschäftsmodelle möglich werden, die komplett andere ökonomische Eigenschaften haben als die mit physischen Assets. Die Forschung haben wir in der Schweiz schon 1997 bis 2001 gemacht, nur kein Schwein wollte es hören oder gar verstehen. Erst via Amerika mussten die Ideen von Business Model Innovation wieder zurück kommen, damit sie jetzt geglaubt werden.

  3. Reisserisch würde ich den Artikel nicht nennen, aber mir ist jetzt auch nicht ganz klar was Sie genau sagen wollen. Digitalisierung setzt ein Umdenken voraus, das wird wohl keiner bestreiten. Aber warum soll ein 55+ das offenbar ganz grundsätzlich nicht hinkriegen? Das Tablet im Aussendienst kann doch sehr wohl ein wichtiger Baustein in der Digitalisierung der Geschäftsprozesse sein, oder nicht? Mich irritiert in der Diskussion auch, dass man dem Unternehmen sagt, es müsse jetzt sofort digitalisieren, sich von alten Zöpfen und Mitarbeitern verabschieden. Aber warum eigentlich genau? Es gibt Branchen, da wird man lange digitalisieren können, am Schluss ist die ganze Branche eh überflüssig. Ich bin übrigens einer dieser Schriftsetzer, die den ziemlich brutalen Wandel damals in der Branche mitgemacht haben und ihn spannend fanden. Aber im Rückblick wäre es für viele Betriebe wohl besser gewesen, sie hätten in Ruhe die 3. Technologie-Generation abgewartet, und sich darauf eingestellt, dass ein Teil des Angebots bald eh nicht mehr nachgefragt werden wird.

    • Danke für das konstruktive Feedback auf diesen Erfahrungsbericht. Das Tablet im VAD ist nun eben eher Elektrifizierung (oder alter Wein in digitalen Schläuchen) statt Digitalisierung.

      Und selbstverständlich kriegen auch die 55+ das mit der Digitalisierung (irgendwie) hin. Der Rücktritt bezieht sich auch auf Disruption und nicht Digitalisierung, das wäre eine konsequente Konsequenz. Denn zu viele reden nur davon und meinen etwas ganz anderes. Und wollen primär ihre Pfründen sichern und setzen auf eigene Besitzstandswahrung statt Überlebensfähigkeit des Unternehmens.

      Und das wäre nun auch die Kernaussage des Beitrages gewesen.

  4. Naja, ich sehe es halt wohl eher aus der KMU-Perspektive, obwohl ich auch viele Jahre in Grossbetrieben tätig war. Ein Kunde von mir aus der Investitionsgüter-Industrie (man redet ja sehr oft nur von den Handelsbetrieben) hat übrigens einen bildlichen Begriff, um die Digitalisierung in seiner Branche zu erklären und den alle verstehen: Es geht um „Produktmenge: 1“.

    • Ich kenne vielfältigste Perspektiven sehr gut; vom KMU über Grossunternehmen aus Service, Handel, Produktion bis Hersteller etc. Was den Begriff auch sehr gut erklärt ist: „Grenzkosten = 0“.

      • Der ist auch sehr gut. Wobei… z.B. beim 3D-Druck wäre ja immerhin das Granulat, das für eine zusätzliche Einheit anfällt, oder generell Materialkosten. Aber vielleicht verwechsle ich da grad was, die Ausbilbung ist schon viele Jahre her;-)

  5. Ich frage mich gerade wie ich wohl die „Digitalisierung“ ganzheitlich in meinem Business umsetze…. naja das hat wohl Zeit – gestorben wird immer ?

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