Gestern sorgte die gut recherchierte Geschichte der Handelszeitung über den Start von Amazon in der Schweiz für Furore (Artikel als PDF). Die Medien haben diesen quasi flächendeckend übernommen; die Rede war von Angriff auf Migros und Coop oder harte Konkurrenz für deren Onlinesupermärkte LeShop und coop@home.
Warum also sollte Amazon in der Schweiz starten?
Ein Diskurs über Pro und Contra und mögliche Szenarien.
Seit Monaten hält sich das hartnäckige Gerücht, dass Amazon in der Schweiz startet. Viele „heisse Spuren“ haben sich wieder verflüchtigt oder als Sturm im Wassergals entpuppt rsp. es handelte sich dann doch nur um das Cloud-Computing-Geschäft und betraf nicht den Handel.
Amazon ist ein global agierender Handelsriese der im vergangenen Jahr einen Umsatz von USD 136 Milliarden erzielte (+27% ggü Vorjahr). Rechnet man die vermittelten Umsätze über seine Marketplace Teilnehmer hinzu, so dürfte der Umsatz der über Amazons-Plattformen erzielt wurde, noch wesentlich höher sein.
In den vergangenen Jahren hat sich der Börsenwert von Amazon mehr als um den Faktor 20 vervielfacht während der Wert der restlichen grossen US-Händler geradezu pulverisiert wurde (Apokalypse im stationären US-Detailhandel).
Und wer Amazon immer noch als Onlinehändler sieht, der liegt ohnehin seit geraumer Zeit falsch. Sehr eindrücklich ist folgende aktuelle Analyse der offenen Positionen die visualisiert, wo Amazon heute steht rsp. wo Amazon seine Wachstumsfelder sieht:
An X-ray of what Amazon really looks like.
Alexa team almost half the size of retail.
And look at the big blue AWS area.
Wake up call pic.twitter.com/hgPFB5MNlw
— Brian Roemmele (@BrianRoemmele) 20. April 2017
Den Umsatz von Amazon in der Schweiz schätzen wir für alle relevanten Länderplattformen (.de, .fr, .it und .com) konsolidiert auf etwa eine halbe Milliarde Franken.
Warum also sollte Amazon diesem Umatz-Brosamen in seinem globalen Kontext überhaupt Beachtung schenken? Der Schweizer Markt konnte bislang erfolgreich aus den Nachbarländern bedient werden bei ungleich tieferen Personal- und Infrastrukturkosten inkl. Porto.
Diese Frage wurde mir in den vergangenen Monaten gefühlt mehr als zwei Dutzend mal gestellt. Die Antwort war bislang immer dieselbe:
So lange Amazon nicht in der Schweiz präsent sein muss, wird Amazon auch nicht in der Schweiz präsent sein wollen.
Und die Antwort wird weiterhin dieselbe bleiben.
Wann also muss Amazon in der Schweiz präsent sein?
Der nun mutmasslich bevorstehende Markteintritt von Amazon mit dem Pantry-Programm (Bevorratung) kann nach wie vor problemlos vom Ausland her operativ abgewickelt werden. Vorräte müssen weder besonders schnell beim Kunden sein noch sind sie per-se verderblich. Also macht es für Amazon strategisch keinen Sinn, in der Schweiz vorerst gross in Infrastruktur zu investieren.
Amazon wird jedoch in der Schweiz präsent sein müssen, wenn der Faktor Geschwindigkeit ins Spiel kommt. Denn Geschwindigkeit heisst nach Ausschöpfung aller Prozessoptimierungen Nähe zum Kunden. Oder anders gesagt:
Wenn Amazon innert weniger Stunden liefert oder Frischprodukte anbietet, wird ein Standort Schweiz unabdingbar.
Ab diesen Zeitpunkt muss Amazon – aus deren Kostenperspektive ’notgedrungen‘ – Standort(e) in der Schweiz betreiben. Wagen wir in diesem Kontext einen Blick auf eine Auswahl nachfolgender Amazon-Services:
Amazon Prime
Das erfolgreiche Kundenprogramm Amazon Prime ist Basis für einen Grossteil der Services die Amazon anbietet. Es ist davon auszugehen, dass bei einem Start in der Schweiz auch vorerst nur mit Pantry eine Swiss-Edition von Prime lanciert wird.
Gekoppelt mit den vorteilhafteren Lieferversprechen (Zeit, Kosten etc.) ist bei Amazon Prime auch eine breite Pallette weiterer attraktiver Dienstleistungen von Spezial-Sortimenten, Cloud-Diensten bis hin zu Entertainment (Lesen, Filme, Musik u.a.).
Amazon Fresh
Unser 1. April-Scherz (coop@home und LeShop werden zu AmazonFresh Schweiz) zielte nicht grundlos auf Lebensmittel ab. Denn für die knallhart kalkulierenden Amazon-Manager wird schnell klar sein, dass man in der Schweiz im Bereich von Lebensmitteln noch Geld verdienen kann – die Margen sind durchaus attraktiver als in anderen Ländern.
Daher wäre eine schlüssige Hypothese, in der Schweiz mit Lebensmitteln zu starten. Denn das restliche Sortiment ist ohnehin bereits vollumfänglich online erhältlich; entweder bei etablierten Onlinehändlern oder von Amazon direkt oder via Dritte wie MeinEinkauf.
Zudem haben Online-Lebensmittel auch in der Schweiz immer noch grosse Wachstumspotentiale. Aktuell liegt der Anteil bei knapp 2%, was im europäischen Vergleich eine Bestmarke ist, aber dennoch viel Potential aufweist.
Und bislang wird der Online-Foodmarkt zwischen den beiden grossen aufgeteilt (Lebensmittel Online: coop@home wächst doppelt so stark wie LeShop und gewinnt Marktanteile). Weitere Player wie die Discounter Aldi und Lidl oder auch Denner, Spar oder Volg zeigen diesbezüglich wenig bis keine Ambitionen.
Amazon Pantry dürfte der Markttest für Amazon Fresh (auch) in der Schweiz sein.
Amazon „Full Monty“
Wie oben erwähnt, ist das gesamte Amazon Sortiment in der Schweiz ohnein schon länger entweder direkt oder indirekt verfügbar. Auch die Zoll-Hürden wurden in jüngster Vergangenheit kontinuierlich abgebaut und im Weihnachtsgeschäft des Vorjahres lieferte Amazon zeitlich eingeschränkt gar kostenlos in die Schweiz.
Amazon ist quasi bereits in der Schweiz omni-präsent, wenn wohl auch noch nicht in der breiten Bevölkerungsschicht. Ebenso wird hierzulande kaum Werbung wahrgenommen. Sobald Amazon bereit ist, die Schweiz wie ein Schweizer Händler zu beliefern inkl. aller hierzu benötigter Services wie für den Kunden (finanziell) nicht spürbare Zollkosten, Preise in Franken, Retouren Adresse in der Schweiz und mehr – oder anders gesagt so wie Zalando – dürfte man auch kommunikativ Gas geben und den Schweizer Markt aktiv bearbeiten.
Eine aktive Bearbeitung des Schweizer Marktes wird noch von der anderen Seite des Rheins oder der Rhone stattfinden, so lange die Kunden die Lieferung nicht schneller als in 24 Stunden nachfragen.
Amazon Prime Now
Unweit der Schweizer Grenze in München wie auch in Berlin ist die seit Jahren gewünschte One-Hour-Vision des VSV-Präsidenten Patrick Kessler (PDF) bereits Wirklichkeit. Dort wird innerhalb von 1 bis 2 Stunden nach Bestelleingang ausgeliefert.
In Berlin erfolgt dies u.a. direkt aus einem stillgelegten Einkaufszetrum am Ku’damm (Shopping-Center: Auslaufmodell oder neue Karriere als Logistikhub?) und in Bayerns Hauptstadt wird die Brotzeit innert einer Stunde per Fahrradkurier geliefert.
Wenn auch in der Schweiz innert weniger als 5 Stunden geliefert werden soll, wird Amazon in der Schweiz Lager- und Logistikkapazitäten aufbauen.
Seit langem ist es keine Frage mehr, ob Amazon in der Schweiz startet. Es war bislang nur die Fragen nach dem wann und in welcher Form. Seit gestern liegen erste Antworten vor.