Wie innovativ ein Konzept wie Valoras Avec Box heute schon sein könnte

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Seit rund 2 Wochen steht die Avec Box am Hauptbahnhof in Zürich und in unserer ersten Carte-Blanche Replik haben wir zugegebenermassen kein gutes Haar daran gelassen, was uns auch einige berechtigte Kritik einbrachte (Valoras Avec Box: Ein begehbarer Selecta-Automat oder Passabene & Subito in Pink).

Auf verschiedenen zumeist bilateralen Kanälen haben wir bereits erläutert, wie ein wirklich innovativer unbemannter Laden heute schon aussehen könnte – im Stile von Amazon Go, jedoch für die Schweiz adaptiert. Gerne wollen wir dies nochmals hier zusammen fassen und dabei konstruktive Kritik üben.

Avec Box von Valora im Testbetrieb im Hauptbahnof Zürich mit einigem Erklärungsbedarf - Foto: Thomas Lang
Avec Box von Valora im Testbetrieb im Hauptbahnof Zürich mit einigem Erklärungsbedarf – Foto: Thomas Lang

Grundsätzliche Probleme die es zu lösen gilt

Eine Innovation wie einen umbemannten Laden entwickelt man nicht, um eine Vielzahl an Technologien zu verbauen sondern es gilt, grundsätzliche Herausforderungen des heutigen Einkaufs zu lösen, anders und neu zu denken und mit adäquater und kundenfreundlicher Technologie anzugehen, um dem Kunden sein Problem zu lösen.

Im Zentrum stehen ein oder mehrere Probleme des Kunden, nicht die Technologie. Denn um das geht es im Kern. Und dieser Approach vermisse ich persönlich bei der Avec Box.

Abstrahiert kann man hinsichtlich des neuen Konzept zwischen folgenden Themen unterscheiden:

  1. Zugang zum Laden
  2. Auswahl und Identfikation der Produkte
  3. Checkout / Bezahlen

Nachfolgend wollen wir uns die einzelnen Themenblöcke etwas genauer anschauen.

Was heute schon marktfähig wäre

Wer ein unbemanntes Ladenkonzept betreibt hat automatisch die Frage nach der Warensicherung zu lösen. Entweder ich sichere die Ware oder ich weiss, wer im Laden ist und kann die potentiellen Käufer zweifelsfrei identifizieren. Nur, wie elegant löse ich das?

Zugang zum Laden

Der Zugang zur Avec Box wie auch den anderen heute global eingeführten Konzepten erfolgt in der Regel über das Smartphone, genauer genommen über eine App. Eine einmalige Registrierung ist Voraussetzung für die spätere Identifikation im Format oder ich nutze eine bestehende Identifikationsfunktionalität bspw. einer Kundenkarte.

Und bei der Registrierung scheitert die Avec Box rsp. die dazugehörige App schon einmal, weil

  • der Registrierungsprozess nicht unterbrochen werden kann und falls ja, kann man ihn aktuell nicht mehr aufnehmen
  • auch ein empfohlenes De-/Installieren der App nützt nichts, da die E-Mail und damit wohl der Nutzer im System schon hinterlegt ist und eine Passwort-Vergessen-Funktion nicht existiert, was eine spätere Aufnahme der Registrierung weil man zB die ID-Karte nicht zur Hand hatte, verunmöglicht
  • die Identitätskarte kann man zwar scannen, die Kreditkarte wiederum nicht, was eine unschöne Inskonstenz darstellt
  • die Identifikation über die ID-Karte ist per-se ungewöhnlich und für datenschutz-affine Kunden eher abschreckend. Und was, wer gar keine ID-Karte besitzt?
Wer die Registrierung geschafft hat, steht dann schon vor den nächsten Herausforderungen.

Der Zugang zur Box erfolgt über das Scannen eines QR-Codes, der auf Kniehöhe ausserhalb der Box angebracht ist. Heute wären elegantere wie auch ebenso behindertengerechte Lösungen möglich. Wenn schon eine Erkennung über einen Code, gibt es hier nutzergerechtere Lösungen wie das Ziehen des Smartphones über eine Schleuse wie Amazon Go oder nur schon die Londoner U-Bahnen zeigen, die in etwa das gleiche Verfahren anwenden.

Problematisch wird es, wer in der Box ist und vor dem Scannen der Produkte die App (wissentlich) schliesst, auch wenn er nur eine neu eingegange WhatsApp Nachricht lesen will. Dann kann der Kunde gleich wieder aus der Box und erneut in die Knie, um den Code erneut zu scannen und die App rsp. den Zugang freizuschalten.

So etwas darf nicht vorkommen, das haben auch andere sicherheitsrelevante Apps heute schon gelöst wie Mobile-Banking & Co. Warum kann und will man das nicht anders lösen oder nur schon ein zweiter QR-Code (wenn es denn nicht anders geht) innerhalb der Box könnte hier Abhilfe schaffen.

Aber warum überhaupt einen QR-Code Scannen? Face-Recognition wäre heute doch einfach umsetzbar. Nicht nur der Flughafen Zürich wendet es seit 1.5 Jahren erfolgreich an. Zudem ist es eindeutiger; denn der QR-Code identifziert das Smartphone, Face-Recognition den eintretenden potentiellen Kunden.

Auswahl und Identfikation der Produkte

Wer es in die Box geschafft hat, steht mal grundsätzlich in einem kleinen bis mittelgrossen Convenience-Ladenformat wie es heute Dutzende andere gibt. Einziger Unterschied, kein Personal.

Dass ich als Kunde jedes Produkt, dass ich dem Regal entnehme, selber scannen muss, geht nicht erst 2019 nicht mehr. Entweder die Entnahme wird visuell erkannt mittels Kamera-Technologie (ähnlich Amazon Go), anderer Impulse wie man es bspw. aus B2B-Logistik-Anwendungen kennt (Artikel Entnahme wird gleichzeitig mit dem Anwender gekoppelt und diesem verrechnet) oder gar nicht, sondern erst am Schluss gesamthaft automatisch beim Verlassen des Ladens indem ich alle Waren auf eine dedizierte Fläche lege, diese erkennt automatisch die Produkte, berechnet das Total und fertig. Auch das ist heute schon vorstellbar und ich bin überzeugt, es gibt hierzu Piloten oder gar produktive Konzepte.

Das Scannen an sich ist in der Avec Box zudem umständlich gelöst. Die Bar-Codes sehr klein, verwirrend ob der darüber- oder darunterliegende dazu gehört und man kann sich gut vorstellen, wenn mehrere Kunden vor dem selben Regal stehen, wie es dann vonstatten geht.

Da ich als Kunde eindeutig identifiziert wurde oder mich lassen musste, hätte ich da gerne auch einen Vorteil. Die beiden Piloten der Migros (Amigos und My Migros) nutzen die Cumulus Daten und zeigen mir online meine Produkte, die ich häufig kaufe. Warum bringt dieses Konzept keiner in die Fläche?

Warum werden mir meine Lieblingsprodukte – diese aufgrund meines Verhaltens zu erheben dürfte heute eine Leichtigkeit sein – nicht visuell angezeigt. Entweder am Regal visuell hervorgehoben oder mit autom. gesteuerten Spots angeleuchtet? Jede einigermassen fortschrittliche Logistikanwendung hat das standardmässig inkludiert. Auch hier gäbe es Lösungskomponenten am Markt, die man neu gedacht mal anders nutzen könnte.

Checkout / Bezahlen

Nun zum eigentlichen Herzstück des Konzepts; wie stelle ich sicher, dass der Kunde die Ware auch bezahlt, die er ausgewählt hat. Valora hat sich für das Scannen jedes Artikels entschieden und löst damit kein Kundenproblem. Nein, man verlagert die Arbeit an den Kunden aus ohne wirklich nutzenstiftenden Mehrwert – rein der Technologie zu liebe und kaum dem Kunden.

Jochen Fuchs hat bei t3n diesen Aspekt genau auf den Punkt gebracht: Amazon-Go-Imitate: It’s the Kassiervorgang, stupid!

Da werden Kioskformate gebastelt, die im Prinzip nur das Kassenpersonal ersetzen – mit einer Selfscanner-Kasse oder im Fall der Avec Box mit einer App zum Eintreten, Scannen und Bezahlen.

Welcher Painpoint soll damit bitte gelöst werden? Die Kasse ist zwar weg, aber eigentlich nur auf den Kunden abgewälzt worden.

Nebst dem aufwendigen Scannen der Produkte muss ich beim Verlassen des Ladens auch noch das Bezahlen initiieren. Beides wünsche ich mir, dass es 2019 automatisch passiert. Auch das sollte möglich sein, Amazon Go zeigt, dass es geht. Und übrigens auch Apple seit Jahren, wo ich Peripherie-Geräte im Laden mit der App kurz selber scanne und dann einfach den Laden verlasse (ich habe in einem Apple-Store übrigens noch nie eine „wirkliche“ Kasse gesehen, dies jedoch nur nebenbei).

Innovation wäre heute schon möglich

Viele in diesen drei Themenkomplexen angesprochenen Probleme könnte man heute schon mit marktfähigen Anwendungen lösen, auch wenn sie teilweise aus anderen Bereichen stammen.

Die nun im Hauptbahnhof von Zürich stehende Avec Box könnte demnach bereits viel innovativer sein, gerade im Wissen, dass ein so fortschrittlicher wie auch potenter Konzern wie die Valora dahiner steht. Und um nochmals Jochen Fuchs aus der t3n zu zitieren:

Der Kunde von heute entlarvt halbherzige Marketingmaßnahmen sehr schnell und unterstellt entweder Inkompetenz oder Unwilligkeit.

Dann lieber Technologie einkaufen, die Amazon Go tatsächlich abbilden kann, statt publikumswirksam halbgare Varianten aus der eigenen Entwicklungsabteilung zu erproben.

Denn vom Fortschritt her ist die aktuelle Avec Box nicht viel weiter als der Kult-Selecta-Automat aus den 80er Jahren, der damals im ShopVille des Hauptbahhofs Zürich bereits 7 x 24 Stunden in mehrfacher Wandschrankbreite ein vergleichbares Sortiment bereit hielt:



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Thomas Lang, Betriebsökonom und Wirtschaftsinformatiker, unterstützte Unternehmen bei der Strategieentwicklung von digitalen Vertriebsmodellen, beim Aufbau von digitalen Geschäftsmodellen, bei Expertisen rund um Onlinehandel und der operativen Umsetzung im Bereich Organisation, Prozesse, Innovation, Change-Management und Unternehmenskultur. Er ist Gründer der Carpathia AG, der unabhängigen und neutralen Unternehmensberatung für Digital-Business, E-Commerce und Digitale Transformation im Handel. Zudem ist er Autor von zahlreichen Fachartikeln und -studien, Dozent für Online-Vertriebsmodelle an verschiedenen Hochschulen sowie gefragter Keynote-Speaker zu E-Commerce und Digital Transformation im Handel. Er ist Initiator und Organisator der Connect - Digital Commerce Conference sowie des Digital Commerce Awards. Der von ihm gegründete Carpathia Digital-Business-Blog (https://blog.carpathia.ch) zählt im deutsch-sprachigen Raum zu den wichtigsten unabhängigen Publikationen im Digitalen Handel. Medien bezeichnen ihn als digitalen Vordenker, zitieren und interviewen ihn regelmässig . Am Mittwoch 17. November hat Thomas Lang für immer die Augen geschlossen.

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