Im Alltag sind wir es uns gewohnt, dass ursprünglich Branchenfremde gezielt Technologien und Anwendungen dominieren. Seien es die Karten von Google, die Streamings von Spotify oder Netflix, Buchungsportale wie Booking.com oder Airbnb und viele andere.
Allesamt Anwendungen die noch vor ein bis zwei Jahrzehnten fest in etablierten bis hin zu staatlichen Händen waren wie bspw. dem Bundesamt für Landestopografie.
Und fortlaufend kommen neue hinzu; das traditionelle Banking wird gerade auf den Kopf gestellt, im Bio- und Medtech Bereich stehen grösste Umwälzungen an und ganz zu schweigen von der Automobilindustrie, um einige der grössten Wirtschaftszweige zu nennen.
Technologie dominiert allerorts, im Zentrum stehen künstliche Intelligenz und Maschine Learning und die Bewältigung von ungeheuren Datenmengen, oft auch als Smart oder Big Data kolportiert.
Warum traditionelle Unternehmen den Anschluss verlieren am Beispiel des Handels
Den erwähnten aktuellen Innovationen vorausgegangen sind unter anderem Umwälzungen im Handel, wo in vielen Sortimentsbereichen heute Player dominieren, die kaum länger als 10 Jahre am Markt sind und viele davon Branchenfremde.
Allen gemeinsam jedoch, sie haben nebst einer ausgeprägten Technologiekompetenz keine Altlasten oder ein bestehendes Business-Modell, dass sie gleichzeitig noch erhalten, entwickeln und betreiben müssen, weil es nach wie vor den Hauptanteil der Erlöse erzielt.
Wir bezeichnen dies als sogenannte Transformationsfalle in der sich oft Unternehmungen befinden, die 80-90% ihrer Umsätze in einem traditionellen Businessmodell erzielen wie bspw. Warenhäuser, stationärer Detailhandel, industrieller Grosshandel und ähnliche, die jedoch stagnieren oder forwährend Marktanteile verlieren.
Gleichzeitig stehen diese Unternehmen im Wettbewerb mit neuen und oft branchenfremden Playern, die 100% ihrer Ressourcen und Management Attention in neue und zukunftsfähigere (Vertriebs)konzepte investieren. Grundsätzlich eine unvorteilhafte Ausgangslage und Situation die ungewöhnliche Massnahmen erfordert.
Seien es deutlich disproportionale Investitionen (Globus: Über die Hälfte des Investitionsvolumens fliesst ins Digitale), Übernahme der digitalen Mitbewerber (Hoffmann Gruppe übernimmt Contorion) oder Umkehr des Geschäftsmodells und radikale Flächenreduktion (Ex Libris transformiert vom Filialisten zum Pureplayer).
Dilemma im Zweifrontenkrieg
Auch wenn sich die Bezeichnung Zweifrontenkrieg oder gar Mehrfrontenkrieg etwas gar polemisch anhört, gibt sie die Situation auch im (Schweizer) Detailhandel doch sehr gut wieder. Wo werden welche Ressourcen eingesetzt? Wo liegt die Management Attention? Welche Strategien sind an welchen Fronten erfolgsversprechend und mehr.
Schauen wir uns einmal die vier umsatzstärksten Sortimente im Schweizer Onlinehandel an gemäss der Jahresstatistik von VSV/GfK.
Es sind dies Elektronik, Mode, Möbel und Medien. Food lassen wir aussen vor, da der Onlineanteil mit gut 2.6% noch sehr klein ist und die Statistik durch den hohen Anteil von Nespresso mit etwa CHF 350 Mio „verfälscht“ wird.
Zudem wird Food von den beiden Grossverteilern dominiert, deren Onlineumsätze jedoch im Vergleich zu deren stationärem Detailhandelsumsatz im Promillebereich liegen (2018: LeShop CHF 185 Mio / Migros Detailhandelsumsatz CHF 23.7 Mrd).
Elektronik
Diese Kategorie wird in der Schweiz von Digitec Galaxus, Brack.ch und Microspot dominiert, allesamt Pureplayer die gemeinsam auf einen Umsatz von etwa CHF 1.5 Milliarden kommen.
Die ursprünglich stationären Formate wie Interdiscount, MediaMarkt oder Fust liegen im Vergleich abgeschlagen jeweils in Umsatzregionen zwischen CHF 60 Mio. und gut CHF 100 Mio. für deren Onlinegeschäft, während deren Unternehmensumsätze inlkusive der stationären Umsätze deutlich höher liegen; im Fall von Interdiscount gar über einer Milliarde.
Exemplarisch auch hier, wie online von neuen Playern dominiert wird und die stationären Formate in Sachen Digital Commerce Umsätze deutlich im Hintertreffen sind. Ein Zweifrontenkrieg ist schwierig zu führen und noch schwieriger zu gewinnen.
Mode
Besonders akzentuiert respektive krass zeigt sich die Situation im Bereich Mode und Schuhe. Hier dominiert Zalando mit einem für 2018 geschätzten Umsatz in der Schweiz von CHF 785 Mio. nicht nur das Onlinegeschäft klar, sondern ist seit gut zwei Jahren auch gesamthaft grösster Modehändler in der Schweiz, grösser als H&M oder Zara mit ihren omnipräsenten Ladenformaten. Und dies nach wie vor ohne einen einzigen Mitarbeiter hierzulande.
Zalandos Schweizer Umsatz überstieg bereits im vergangenen Jahr die konsolidierten Umsätze der bekannten Modehäuser Bayard, Brunschwig, PKZ, Herren-Globus und Schild, letztere beide seither unter der Marke Globus zusammengefasst.
Die Onlineumsätze der Schweizer Händler wie PKZ, Globus etc. mit Mode dürften sich allesamt im mittleren bis hohen ein- bis tiefen zwei-stelligen Millionenbereich befinden. Oder anders gesagt, lediglich im Bereich zwischen 1 und 5 Prozent der Zalando Umsätze – die Transformationsfalle hat brutal zugeschnappt.
Mode Online scheint ohnehin für Schweizer Händler ein ganz schwieriges Pflaster zu sein, denn diese Kategorie ist im Gegensatz zu Elektronik fest in ausländischer Hand. Neben Zalando bestimmen Händler wie Bonprix (geschätzter Umsatz für 2018 in der Schweiz über CHF 80 Mio.), Heine (über CHF 60 Mio geschätzt) oder AboutYou (ca. CHF 45 Mio geschätzt) den Markt.
Möbel
Mit einem Onlineanteil von etwa 6 bis 7% sind Möbel noch ein Sortimentsbereich mit Aufholpotential. Online spielen hier in der Schweiz einerseits die beiden deutschen Formate Westwing und Home24 eine Rolle. Bei Home24 wurde kürzlich ein Brutto-Umsatz für die Schweiz von CHF 40 Mio publik.
Weitere Onlineplayer aus dem Bereich Designer-Möbel sind die deutschen Connox oder die Schweizer Beliani und Goodform, die ebenfalls Umsätze im Bereich von ein- bis tiefen zweistelligen Millionen erwirtschaften dürften.
Doch auch ein Möbel Pfister dürfte mittlerweile Online Umsätze in der Region von CHF 40 Mio. erzielen, die Migros-Formate Micasa/Interio oder Coops Livique wohl auch im Bereich um die CHF 20-30 Mio. Ikea kommt in der Schweiz bereits auf einen Onlineanteil von etwa 8% am Geamtumsatz und meldete Onlineumsätze von CHF 77 Mio. per Ende September 2018.
Auch wenn die Kategorie Möbel rsp. Home & Living noch grosses Aufholpotential aufweist, so scheint das Rennen noch offen zu sein, ob es die neuen Player mit ihrer ausgeprägten Technologiekompetenz oder die etablierten Player mit ihren stationären Formaten machen werden.
Medien
Das eigentliche „E-Commerce Ursortiment“ Bücher zusammen mit Musik, Filme und Games zusammengefasst als Medien scheint nach wie vor in Schweizer Hand zu sein, wie auch die kürzlich publizierte E-Commerce Studie von Y&R Wunderman zeigte.
Hier können Weltbild, Orell-Füssli wie auch Ex Libris einem Amazon weiterhin Paroli bieten. Weltbild und Orell-Füssli sind weiterhin stationär dominierte Formate während sich Ex Libris mehrheitlich vom Filialgeschäft verabschiedete und sich auf das Onlinegeschäft konzentriert.
CeDe.ch oder World of Games sind weitere Schweizer Onlinehändler, die in ihrem Bereich (Musik rsp. Games) seit Jahren erfolgreich sind.
In dieser Kategorie sind wenig neue Konzepte oder internationale Player auszumachen, wenn man den Fokus auf den Handel mit Produkten legt. Gleichzeitig sind Medien wohl die Kategorie, die von einer sogenannten Triple-Digitalisierung betroffen ist. Erstens das Wegbrechen der Umsätze von stationär zu online. Zweitens die Digitalisierung der Formate zu eBooks, Musik-, Film- und Game-Downloads. Drittens der Wandel zu neuen Vertriebsformaten wie Streaming, Flatrates etc.
What’s next? Luxusgüter und Automobile
Hat man vor 10 Jahre noch behauptet, man könne Schuhe nicht online verkaufen, vor 5 Jahren schienen Möbel unmöglich steht aktuell der Handel mit Luxusgütern und Autos im Fokus.
Im Bereich von Premium-Fashion zeigen sich Händler und Plattformen wie MyTheresa, Farfetch oder Yoox Net-a-Porter wegweisend, also wiederum neue Player nebst dem, dass sich hier auch die Hersteller und Marken aktiv an der Entwicklung von digitalen Direktvertriebsmodellen beteiligen.
Ganz ähnlich die Situation im Bereich von Luxus Uhren und Schmuck, wo der Handel die Entwicklung auch nach eigenen Angaben regelrecht verschlafen hat. Nebst dem, dass gerade die grossen Marken und Luxusgüterkonzerne wie Richemont & Co. stark auf digitale Vertriebsmodelle setzen sind es parallel Plattformen wie Chrono24 oder Chronext, die den Markt aktiv mitgestalten und substantielle Umsätze erzielen.
Chrono24 vermittelte 2018 Uhren im Wert von EUR 1.3 Milliarden, Chronext peilt bis 2023 die EUR 500 Mio. Umsatzgrenze an. Vorletzte Woche zeigte Chronext CEO Philipp Man an der Connect – Digital Commerce Conference in Zürich, wie wie man eine Plattform im Luxussegment baut.
Eindrücklich auch, dass gerade im Luxussegment offenbar wenig Hemmungen bestehen, ganz teure Stücke gar mit dem Smartphone zu kaufen, wo der mobile Anteil bei Chronext mittlerweile 60% beträgt. So kaufte ein Schweizer Kunde vergangenen September mit seinem iPhone ein auf 18 Stück limitiertes Modell einer Grand Deck Marine Tourbillon aus dem Haus Ulysse Nardin im Wert von CHF 205’000.- mit Kreditkarte bei Chronext.
Ähnliches ist auch bei Autos vorstellbar, wobei sich hier die Importeure und die Marken noch sehr schwer tun. Haben sie doch über Jahrzehnte ihre Händlernetze aufgebaut und gepflegt und nun Hemmungen, direkt zu verkaufen.
Wenig verwunderlich, dass also auch in diesem Segment andere Gas geben wie beispielsweise Galaxus, das seit Kurzem eine Auswahl an Autos im Angebot hat, entweder zum Kauf oder zur Miete. Andere Marken und Händler haben schon früher Versuche unternommen.
Das Tesla-Momentum im Digital Commerce
Um beim Automobil zu bleiben, jedoch mit Blick auf die Entwicklung von Elektro-Fahrzeugen: Während viele Autobauer aktuell ihre Modell-Pallette um Elektro- und Hybrid-Fahrzeuge schon fast panikartig erweitern, erinnert dies doch sehr an die digitalen Vertriebsmodelle im Handel.
Denn kaum ein Fahrzeug der grossen Hersteller wurde von Beginn weg als Elektro-Fahrzeug konzipiert. Man entfernt einfach den Verbrennungsmotor, Antriebsstrang und Tank und ersetzt das ganze mit Elektromotor und Batterien, um es etwas vereinfacht auszudrücken. Vom Modell her – im sprichwörtlichen Sinn – ist es ein als Verbrenner entwickeltes Auto. Auch hier also quasi ein Zweifrontenkrieg.
Ganz anders Tesla, dessen Modelle als reine Elektrofahrzeuge entwickelt wurden. Kommt hinzu, dass das Produkt Auto nur eine Komponente im Vertriebsmodell darstellt. Kaum weniger wichtig sind die Services die rund um das Auto gebaut wurden (neue Features on demand etc.), das internationale Netz an Ladestationen plus die ungeheure Menge an Daten die gesammelt werden, nicht zuletzt auch dafür, um die führende Rolle im Bereich des Autonomen Fahrens zu manifestieren.
Und hier gibt es unweigerlich Parallelen zur Entwicklung der digitalen Handelsmodelle. Während traditionelle Händler analog den Autobauern ihre Vertriebskonzepte auch onlinefähig machen mit unterschiedlichem Erfolg, verstrickt in einen Zweifrontenkrieg und der Gefahr der Transformationsfalle ausgesetzt, bauen neue Player und oft auch Branchenfremde komplett neue Konzepte bei denen der eigentliche Handel oder das Produkt nur noch eine Komponente darstellt.
Und nicht minder wichtig oder in Zukunft noch viel wichtiger werden Services und Ökosysteme, in denen die eigentliche Leistung integriert ist sowie eine stark datengetriebene Innovation.
Sehr aufschlussreicher, vor allem aber auch interessanter Beitrag. Besten Dank.