Hat das Kundenzugang oder kann das weg? Sieben Denkanstösse für die nächste Strategie-Runde

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Nach der Pandemie leben die Geschäfte wieder auf. Aber was braucht es zum Überleben? Strategien ohne digitalen Schwerpunkt kann man getrost ignorieren, sagt Stefan Wenzel.

Stefan Wenzel ist selbständiger Berater, Speaker und Investor
Stefan Wenzel ist selbständiger Berater, Speaker und Investor

Gastbeitrag von Stefan Wenzel, selbständiger Berater, Speaker und Investor. Er ist seit 22 Jah­ren im digi­ta­len Han­del unter­wegs und gehört zu den pro­fi­lier­tes­ten Köp­fen der Bran­che. Sei­ne Vita beinhal­tet u.a. Sta­tio­nen als Geschäfts­füh­rer für Unter­neh­men wie Ebay, brand4friends, Otto, Mexx und Tom Tailor Digi­tal.

Der Artikel ist ursprünglich bei profashionals erschienen und wir publizieren ihn mit freundlicher Genehmigung.


Trotz jüngs­ter Insol­venz-Pro­gno­sen des HDE und des Vor­marschs der Del­ta-Vari­an­te im Wett­lauf mit der Impf­quo­te, liegt eine Wie­der­öff­nungs-Eupho­rie in der Luft. Bil­der von Luft­bal­lons in den Hän­den fröh­lich win­ken­der Store-Mitarbeiter*innen an den lei­der ten­den­zi­ell lee­ren Ein­gän­gen sind auf sozia­len Medi­en schwer zu vermeiden.

Das ist erst ein­mal schön und gut für das Pan­de­mie-geplag­te Gemüt. Kom­bi­niert mit der eben­so kalen­da­risch begüns­tig­ten Gefühls­la­ge ist der eine oder ande­re Markt­teil­neh­mer spür­bar geneigt, das Ende des ana­log-digi­ta­len Alb­traums vor sich zu sehen. Und so schwingt auch ein wenig digi­ta­ler Frust und ana­lo­ger Trotz in den Lin­kedIn-Posts manch eines Geschäfts­füh­rers mit. Um aber Trug­schlüs­sen ent­ge­gen­zu­wir­ken und tek­to­ni­sche Markt­be­we­gun­gen nicht zu unter­schät­zen, hier ein paar der wesent­li­chen im Schnell­durch­lauf für die anste­hen­den Strategie-Runden:

1. Online domi­niert den Markt

In Chi­na wird der Anteil des Online-Han­dels die­ses Jahr ver­mut­lich die 50%-Marke schaf­fen, in Deutsch­land ist man im Jahr 2020 ohne den spät erwa­chen­den Lebens­mit­tel­ein­zel­han­del auf 18% Umsatz-Anteil gekom­men, in eini­gen Kate­go­rien sind es schon 40%.

Ten­denz über alle Seg­men­te: wei­ter stark stei­gend. Die E‑Com­mer­ce-Markt­durch­drin­gung in Deutsch­land betrug letz­tes Jahr bereits 83%. Stra­te­gien ohne digi­ta­len Schwer­punkt kann man getrost ignorieren.

2. Platt­for­men domi­nie­ren Online

Platt­for­men sind die grossen Gewin­ner des Digi­tal-Booms, bei Kun­den und Anle­gern. Mehr als 50% des deut­schen E‑Commerce stammt von Markt­plät­zen, 60% davon war schon vor der Pan­de­mie bereits Ama­zon. Glo­bal ist Ama­zon allein im Jahr 2020 um ein kom­plet­tes Ebay, und in Q1 2021 um eine unvor­stell­ba­re Mil­li­ar­de US-Dol­lar gewach­sen. Pro Werk­tag.

In Deutsch­land hat Ama­zon 75% des gesam­ten Online-Wachs­tums in 2020 aus­ge­macht. Aber auch Zalan­do, About You, Asos & Co. hat­ten einen Lauf. Zalan­do hat sei­ne mit­tel­fris­ti­gen Wachs­tums­zie­le gleich ein­mal auf 30 Mrd. Euro erhöht. Stra­te­gien ohne Platt­form-Kom­po­nen­te sind keine.

3. D2C wird das domi­nie­ren­de Modell

Han­dels-Platt­for­men erset­zen wei­test­ge­hend den tra­di­tio­nel­len Han­del und wer­den zur Infra­struk­tur für den Pro­dukt­ver­kauf. Dabei set­zen die Platt­for­men zur Ska­lie­rung aber nicht auf das Geschäft mit eige­nem Bestand, son­dern ver­mie­ten ihren Kun­den­zu­gang an Ver­käu­fer im Direct-To-Con­su­mer Modell (D2C).

Damit wird das Ende des Who­le­sa­les auch aus die­ser Rich­tung beschleu­nigt und tra­dier­te Her­stel­ler ste­hen vor einer fun­da­men­ta­len Ände­rung ihres Betriebs­mo­dells. Wer D2C – ob über Platt­for­men oder eige­ne Touch­points – nicht als zen­tra­les Modell beherrscht, wird vom Markt ver­drängt werden.

4. D2C wird zu C2M

Ein Blick auf den chi­ne­si­schen Shoo­ting-Star Shein (aus­ge­spro­chen She-In) zeigt neue Mass­stä­be: Daten­si­gna­le aus Social Media und Such­ma­schi­nen wer­den inner­halb weni­ger Werk­ta­ge in Pro­duk­te über­setzt und in klei­nen Men­gen per Drop über die App den hoch akti­ven Usern ange­bo­ten. Der enor­me Erfolg die­ses „Realtime-Fashion“-Ansatzes bei jun­gen Kun­din­nen lässt die Nach­hal­tig­keits-Chö­re tro­cken hus­ten, zeigt aber das Poten­zi­al des daten­ge­trie­be­nen D2C.

In die­ser Form heisst der Ansatz fol­ge­lo­gisch Con­su­mer-To-Manu­fac­tu­rer (C2M), weil nicht Pro­duk­te zum Teil gegen die Nach­fra­ge in den Markt gedrückt wer­den, son­dern ech­te Nach­fra­ge früh erkannt, ohne lan­ge Vor­läu­fe pro­du­ziert und ohne fahr­läs­si­ge Über­hän­ge einer gro­ßen Kun­den­ba­sis zugäng­lich gemacht wird. Was weg ist, ist weg. Ein nach­voll­zieh­bar sinn­vol­le­rer Ansatz, der in geän­der­ter Anwen­dung im Übri­gen enor­mes Nach­hal­tig­keits-Poten­ti­al für die Bran­che hat.

5. Mobi­le Betriebs­sys­te­me als neue Gate­kee­per

Zeit­gleich erhö­hen die grossen Tech-Platt­for­men, allen vor­an die mobi­len Betriebs­sys­te­me von Apple und Goog­le, wei­ter die Schutz­mau­ern um ihren Kun­den­zu­gang. Und sie erschüt­tern unter dem neu ent­deck­ten Leit­mo­tiv des Daten- und Nut­zer­schut­zes im Vor­bei­ge­hen den Wer­be­markt. Dabei dürf­te die anste­hen­de Abschaf­fung von Coo­kies im Chro­me-Brow­ser sowie der Schutz vor sei­ten­über­grei­fen­dem Tracking und der Dyna­mi­sie­rung von Email-Inhal­ten bei Apple erst der Anfang sein.

Goog­le hat jüngst ange­kün­digt, kom­plet­te Inhal­te von Web­sei­ten, aber auch Pod­casts und Vide­os such­bar zu machen. Damit wer­den dann nahe­zu rest­los alle digi­ta­len Inhal­te auf Goog­le ver­füg­bar. Goog­le dankt für die Inhal­te, aber Traf­fic gibt es dafür nicht. Der ein­zi­ge, wenn­gleich anspruchs­vol­le Weg raus aus der Fal­le ist, als Mar­ke so stark zu sein, dass User die Brand-Web­site direkt ansteuern.

6. Mar­ke und eige­ne Daten sind alles

Neben Platt­for­men zäh­len Mar­ken zu den mög­li­chen Pro­fi­teu­ren der Ent­wick­lun­gen. Im Wind­schat­ten von Social Media- und Platt­form-Dyna­mik sind unzäh­li­ge „digi­tal nati­ve-Mar­ken“ ent­stan­den, die in der alten Welt kei­ne Reich­wei­te und vor allem kei­ne Dis­tri­bu­ti­on gefun­den hät­ten, heu­te aber den Markt in Bewe­gung hal­ten. Moder­ner Han­del ist aber mehr als rei­ne Dis­tri­bu­ti­on, es geht um wert­stif­ten­de Bezie­hun­gen für Kun­den.

Wer in Trans­ak­tio­nen denkt, hat im ent­schei­den­den Erleb­nis-Wett­be­werb bereits ver­lo­ren. Und mit Erleb­nis ist nicht der Feu­er­spu­cker am Ein­gang oder Ähn­li­ches vom Sor­ti­ment Los­ge­lös­tes gemeint. Das ist, neben kom­mer­zi­el­len Aspek­ten, der Grund auch für vie­le eta­blier­ten Mar­ken, voll auf D2C zu set­zen. In einer weit­ge­hend kom­mo­di­fi­zier­ten Pro­dukt­welt ent­schei­det die Strahl­kraft der Mar­ke und die ganz­heit­li­che Qua­li­tät des Erleb­nis­ses mit der Mar­ke, ob man im Rele­vant-Set der Ziel­grup­pe ist oder eben nicht. Klingt wie eine Bin­se, ist es aber nicht.

7. Wert­stif­ten­de Anders­ar­tig­keit als Gegen­an­ge­bot

Bei aller Domi­nanz hat Ama­zon 2020 in den USA zum ers­ten Mal in sei­ner Geschich­te Markt­an­tei­le ver­lo­ren. Und zwar vor allem an Shopi­fy, der Shop-Tech­no­lo­gie vie­ler krea­ti­ver D2C-Play­er. In ihrem auf Brei­te, Volu­men und Effi­zi­enz opti­mier­ten Ansatz kre­ieren Platt­for­men zwangs­läu­fig unbe­dien­te Vaku­en.

In Cus­to­mer-Expe­ri­ence und Spe­zia­li­sie­rung lie­gen wahr­schein­lich die gröss­ten Ein­falls­to­re für Wett­be­wer­ber. Same same but dif­fe­rent reicht aber nicht. Mut zum Pro­fil und ech­te, No-Bull­shit-Kun­den­zen­trie­rung ist gefragt. Die gute Nach­richt ist: an digi­ta­ler Tech­no­lo­gie wird es zumin­dest nicht schei­tern. In die­sem Sin­ne: Just do it.

Beitragsbild von Andrea Piacquadio von Pexels



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