Video-Beratung war schon seit vielen Jahren ein Thema, doch niemand hat damit wirklich den Durchbruch realisiert. Doch dann kam 2020 der Lockdown und innerhalb weniger Wochen schossen überall Video-Beratungs-Tools aus dem Boden. Und einige davon sind überaus erfolgreich, wie das Beispiel des Teams New Business der Migros Aare zeigt: Über 100’000 Video-Beratungen in rund 12 Monaten, bis zu 3x höhere Warenkörbe (als sonst in Onlineshops) bei einer überdurchschnittlichen Conversion Rate und eine Kundenzufriedenzeit von 4,7 bei über 20’000 Bewertungen illustrieren diese Erfolgsgeschichte auf eindrückliche Weise.
Einfach Videoberatung
Die Idee ist simpel und bestechend einfach: Kunden via Video so zu beraten, als wären sie im Laden. Doch so einfach die Idee ist, so komplex ist ihre Umsetzung. Aber der Reihe nach und zwar anhand des Beispiels der Videoberatung in den Fachmärkten der Migros (Migros DO IT + Garden, SportXX, Micasa, Bike World by SportXX und melectronics).
Der wichtigste Faktor sind der Mensch und die Prozesse, die Technologie dient nur als Enabler.
Granit Tetaj, Product Owner New Business Migros Aare
Das Team um Granit Tetaj, Product Owner New Business bei der Migros Aare, hatte das Potentialfeld Videoberatung bereits identifiziert und war mit einem ersten MVP (Minimum Viable Product) eine Videoberatung in einer Micasa-Filiale am Testen, als der erste Lockdown im Frühling 2021 verhängt wurde. Als alle Läden geschlossen waren, entschloss sich die Migros, die Videoberatung zu skalieren und in alle Fachmärkte zu bringen. Dieses Vorhaben wurde in enger Zusammenarbeit mit der neu gegründeten Migros Fachmarkt AG entwickelt.
Lean Start-up Approach
Zum Start wurde ein Berater mit Headset und Tablet mit integrierter Kamera ausgerüstet und das Beratungs-Angebot wurde live geschaltet. In raschen Iterationsschritten wurde das Equipment und die Prozesse optimiert, die digitale Lösung ausgebaut und die Nachfrage nach der Videoberatung stieg kontinuierlich an.
Schon bald mussten mehrere Berater ausgebildet und ausgerüstet werden und die Prozesse und Systeme wurden laufend optimiert – und zwar immer aus Sicht der beiden Menschen Kunde und Berater.
Zurückgreifen auf bestehende Click-and-Collect-Prozesse
Mit ein Grund für die rasche Umsetzung in den Migros Fachmärkten waren bestehende und bereits etablierte Click-and-Collect-Prozesse: So sind die Produkte alle in einem Onlineshop verfügbar, Bezahl-, Liefer- und Abholprozesse sind eingespielt. So werden beispielsweise Kundenbestellungen von den Beratern ausgelöst und an die Kunden per Post zugeschickt. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Berater ein Produkt für die Kunden in einer Filiale reservieren lassen, damit es der Kunde abholen kann. Mit dem Video-Commerce musste also nur noch der Kunde an bereits eingespielte Prozesse angebunden werden.
Nicht ganz hindernisfreie Umsetzung
Wie bereits erwähnt ist die Idee bestechend einfach und die Voraussetzungen waren bei der Migros mit etablierten Click-and-Collect-Prozessen sehr gut. Dennoch war die Umsetzung alles andere als ein Kinderspiel, wie Granit Tetaj, Product Owner der Videoberatung der ersten Stunde, erzählt. Es musste diverses Equipment getestet werden: Headsets und Kameras zum Beispiel. Und auch das Stativ, mit welchem die Kamera im Laden herumgeschoben wird, musste optimiert werden. Das Team testete zum Beispiel 12 unterschiedliche Rollen, bis das Team und die Kunden zufrieden waren!
Video Commerce sollte ein Teil der gesamten Customer Experience angesehen werden und nicht als alleinstehender Verkaufskanal.
Silvan Forster, Leiter New Business Migros Aare
Gesamte Customer Journey im Auge behalten
Ausserdem setzte das Team von Granit Tetaj nicht bloss die Videoberatung als abgetrennten Schritt in der Customer Journey um, sondern legte von Anfang an grossen Wert darauf, die gesamte Customer Journey des Kunden im Blick zu haben. So sieht der Berater zum Beispiel, welche anderen Produkte der Kunde auch schon angeschaut hat oder gewisse Kundenstatistiken auf seinem Dashboard. Ausserdem gibt es für Kunden die Möglichkeit, Rückrufe oder Termine zu vereinbaren oder auch mit einer Sharing Funktion gemeinsam im Onlineshop zu navigieren.
Dies zeigt: Die Lösung von der Migros ist kein rein transaktionales Tool, sondern ein integrierter Bestandteil in die gesamte Customer Journey. Dies macht ein solches Projekt natürlich deutlich komplexer, ist es aus Sicht von Silvan Forster jedoch unbedingt Wert.
Überrannt von Video-Calls
Als das Team die Video-Beratung in allen fünf Fachmärkten der Migros ausgerollt hatte, wurde es regelrecht überrannt von Video-Calls. In den vergangenen zwölf Monaten hat das Team über 100’000 Video-Beratungen durchgeführt. Die erzielten Warenkörbe waren bis zu dreimal grösser als eine normale durchschnittliche online Bestellung und dies bei weit überdurchschnittlichen Conversion Rates. Ausserdem ist das Kundenfeedback extrem positiv. Bei über 20’000 Bewertungen liegt der Durchschnitt bei fast 4.7 von 5 Punkten – und dies in der Schweiz.
Den „typischen“ Video-Beratungs-Kunden gibt es übrigens gemäss Granit Tetaj nicht: Es sind alle Altersgruppen und Geschlechter vertreten und entsprechen in ihrer Zusammensetzung in etwa der Zielgruppe der jeweiligen Onlineshops.
Höhere Warenkörbe mit Video Commerce
Die Video-Beratung ist ein Erfolgsmodell bei den Kunden – und auch äusserst spannend für Händler. So erzielen die Einkäufer via Video einen bis zu dreimal höheren Warenkorb. Gleichzeitig ist die Conversion Rate bei Beratungsgesprächen mit rund 30% sehr hoch verglichen mit anderen Kanälen.
Nimmt man zum Beispiel eine durchschnittliche Beratungsdauer von 5-10 Minuten pro Kunde an, entstehen Personalkosten von rund CHF 10.-. Dies sind überschaubare Kosten für einen bis zu 3x grösseren Warenkorb und rund 30% Conversion Rate!
Allerdings dürfen bei der Umsetzung die Technologie- und Implementierungskosten nicht unterschätzt werden. Silvan Forster unterstreicht, dass das Prozess- und System-Knowhow sowie die Einbindung der Berater an der Front entscheidend sind für den Erfolg eines Video-Commerce-Projekts. Die digitale Lösung mit dem umfangreichen Feature-Set sowie die umfassenden Auswertungsmöglichkeiten sind Grundvoraussetzung, aber alleine noch keine Garantie für eine erfolgreiche Umsetzung von Video Commerce.
Video Commerce als Grundlage für Social Commerce
Die Weiterentwicklung von Video Commerce zeichnet sich auch schon ab: Mit dieser Technologie können Live-Shopping-Events oder Promotionen stattfinden, Praktiken, die aus dem Social Commerce bereits bekannt sind.
Bald schon offshore Beratungszentren?
Mit der starken Zunahme der Video-Calls wird sich schon bald die Frage stellen, ob es noch Sinn macht, dies in normalen Ladengeschäften zu tun, wo auch Kunden „rumstolpern“. Schon jetzt hat das Team der Migros Aare Showrooms und Beratungsecken eingerichtet für Beratungen, die nicht unbedingt im Laden vor Ort stattfinden müssen.
So stellt sich auch die Frage, ob, beziehungsweise wann, solche Video-Beratungszentren auch offshore eingerichtet werden. Silvan Forster widerspricht jedoch und sagt, die Vorteile der bestehenden Laden-Infrastruktur und die Nähe der Berater zu den Kunden überwiege die Lohnvorteile eines möglichen Offshorings deutlich.
Video Commerce als White Label Lösung für Dritte
Um die reiche Erfahrung, die die Migros mit diesem Projekt erlangt hat, weiterzugeben, hat sie sich entschlossen, ihre Software-Lösung als White Label Lösung auch für Dritte zu vertreiben. Der erste (interne) Kunde ist die Migros Klubschule, wo auch nicht tangible Produkte, wie Kurse, erfolgreich mit Video Commerce vertrieben werden. Im Weiteren wurden mit vier weiteren mittleren bis grösseren Unternehmen aussserhalb vom Migros Kosmos Pilotprojekte gestartet. Das Interesse an der Lösung ist sehr gross, so sollen sich bereits namhafte Brands für die Lösung aus dem Hause „New Business“ der Migros interessieren. Die Lösung überzeugt insbesondere durch die hohe Individualisierung und die einfache Implementierung. Interessierte finden das Angebot unter www.beratungshero.ch.
Auch andere Anbieter springen aufs gleiche Pferd auf: So entwickelt zum Beispiel der Anbieter grizoon unter dem Gründer Rico Castelberg eine Software-as-a-Service-Video Commerce-Lösung für Händler und Dienstleister aller Art. Das besondere an grizoon ist der integrierte Checkout im Video Call. Die Händler können ein individuelles Produkt (z.B. ein Package mit Sonderpreis) direkt während des Video Calls erstellen und dem Kunden in den Warenkorb legen. Diese Lösung funktioniert auch bei Händlern, die keinen Onlineshop im Einsatz haben. Zudem werden alle Händler, welche diese Lösung anbieten, auf einer zentralen Plattform angezeigt. Damit entsteht für den Kunden eine zentrale Anlaufstelle für persönliche Video-Beratung. Grizoon plant den Markteintritt anfangs 2022.
Auch einige internationale Anbieter wie zum Beispiel Bambuser (Live Shopping, Schweden), BeLive Technology (Live Shopping, Asien), Flexperto (Video Beratung, Deutschland), Spin (Social Selling, USA) und natürlich auch Instagram und Co., versuchen den Markt für Video Commerce zu etablieren.
Das Interview mit Silvan Forster, Leiter New Business Migros Aare, und Granit Tetaj, Product Owner Migros Aare sowie Esther Pfister von Carpathia fand im November 2021 per Videokonferenz statt.