Wie sieht die Zukunft des Retailhandels aus?

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Wenn man von der Zukunft des stationären Handels hört, ist immer wieder die Rede von Kundenerlebnissen am POS. Ungewöhnliche und überraschende Erlebnisse sind zu einem zentralen Element geworden, aber es ist nicht alles, was zählt. Entscheidend ist Identitätsstiftung: Kunden möchten mit dem Einkaufen in einem bestimmten Laden einem Lebensgefühl beiwohnen. Besonders stark ist diese Sinnsuche in den Bioläden in Deutschland zu beobachten. Laut Studien besuchen eine grosse Mehrheit von Kunden den Bioladen nicht wegen den Produkten, sondern weil sie zur  «Bio-Community» gehören möchten. 

Vor allem auch wegen dieser Zugehörigkeit kann der stationäre Handel gegenüber dem Onlinehandel auch künftig bestehen: Das anonyme Einkaufen im Netz kann den Kunden nicht dieses Gefühl bieten. Das bedeutet, dass ein physischer Laden dann bestehen kann, wenn es dem Betreiber gelingt, ihn  zu einem Identitätsort umzuwandeln. Die Kunden möchten sich mit Gleichgesinnten treffen, dafür müssen sie nicht einmal in Interaktion mit ihnen geraten, aber das Gefühl kriegen, dass dieselbe Peer-Group mit denselben Werten und Lifestyle am selben Ort einkauft. 

Dieses Identitätsgefühl kann man mit Erlebnissen im Geschäft kreieren, aber das alleine schafft noch keine Identität. Diese lässt sich nur mit einem gesamtheitlichen  Konzept  erzeugen und  dazu  zählen Branding, Produkte, Community, Shopmitarbeiter und ein allgemeiner Mythos rund um den Laden. 

«Bridge» von Migros möchte die Foodies für sich gewinnen

Nehmen wir als Beispiel den Supermarkt «Bridge» von der Migros an der Europaallee in Zürich. Mit dem Konzept möchte der orange Riese ein Art dauerhaften und trendigen Pop-up-Store etablieren, um diese hippe Identität eines urbanen Publikums zu gewinnen. Es gibt dort einerseits einen grossen Frischemarkt mit vielen Bio-Produkten, aber auch ein reichhaltiges Alkoholsortiment, welches von einem anderen Betreiber geleistet wird, und Craft Beer und lokale Gins anbietet.

Die Bridge Bar eingebettet inmitten des «Markets», in dem sorgfältig ausgewählte Produkte von lokalen Produzenten gekauft werden können — Quelle: bridgezurich.ch

Dazu lädt «Bridge» auch immer wieder Köche ein, wie etwa der stadtbekannte «Action Burger», der als Pop-up für Schlangen vor dem Markt sorgte. «Bridge» umfasst 2000 Quadratmeter und soll zu einem «Treffpunkt für Food-Kultur» werden.

Für die Identität von «Bridge» sorgen auch bekannte Vertreter der Zürcher Food-Szene wie Vicafé, die Bäckerei Seri und Tokyo Express. Sie haben bereits eine treue Anhängerschaft, die sie durch ihre Authentizität erarbeitet haben. Migros möchte durch die Zusammenarbeit den Coolness-Faktor dieser Klientel auf ihr Sortiment übertragen. 

Es geht nicht mehr nur um die Produkte

Die Stiftung von Identität ist für den stationären Handel entscheidend, weil die Kunden in erster Linie nicht mehr in einen Shop oder Supermarkt gehen,  um Produkte einzukaufen, sondern um dort unter Gleichgesinnten zu verweilen. Auch, weil viele Produkte mittlerweile online günstiger zu bekommen sind. Der viel gepriesene Service im Laden vor Ort lässt bei grossen, preisgünstigen Ketten auch eher zu wünschen übrig. Es zeichnet sich sogar ab, dass Menschen mittlerweile eher Bots vertrauen als Menschen. 

Bots bieten ein grösseres Spektrum von Vergleichen und sie sind für den Konsument von heute bequem, weil sie selbst Kaufentscheidungen treffen können und sich der Kunde um Wichtigeres als den Produktvergleich kümmern kann. Schon heute gehen zahlreiche Kunden in einem Supermarkt während dem Shoppen online,  vergleichen Produkte oder suchen nach Rezepten. 

Dieser Trend bedeutet aber nicht zwingend, dass Menschen obsolet werden. Aber der Verkäufer muss sich zum Coach wandeln. Der Kunde hat schon vor dem Eintreten in einen Shop viel Recherche betrieben und kennt die angebotenen Produkte genau, auch durch einen guten Onlineauftritt der Brand. Deshalb sind diese Coaches in den Läden heute dazu da, den Kunden zur Kaufentscheidung zu befähigen und zur Identität beizutragen, in dem der Verkäufer mit seinem Look’n’Feel zur Marke passt. 

Masse funktioniert nicht mehr

Dank immer mehr Daten über ihre Kunden können Shops und Supermärkte viel gezielter Produkte anbieten, die dann auch tatsächlich gekauft werden. Unter dem Stichwort «Predictive Shopping». Die Digitalisierung des Retails zündet damit eine nächste Phase: Es geht nicht mehr nur darum, die Produkte auf einem digitalen Kanal zu verbreiten, sondern diese noch mehr dem Individuum anzubieten.

Damit verschwinden Produkte, die für die Masse gedacht sind und werden der Situation entsprechend angeboten und gesteuert. Der Kaufwunsch wird durch Bots und elektronische Assistenten gesteuert, und dieser bestimmt dann auch, was der Kunde kauft und wie er sich eben selbst und dadurch emotionaler durch die Produktwelten manövriert. 

Weniger ist mehr

Diese Entwicklung führt auch dazu, dass Marken, vor allem auch im Fashion-Bereich, nicht mehr alle paar Meter einen Laden benötigen. Natürlich hat die Corona-Pandemie diesen Trend beflügelt. Der Shop ist aber nicht tot, aber er sieht anders aus: Ein Laden ist nicht mehr ein Ort, an dem eine  Transaktion abgeschlossen wird, sondern der Identität stiftet, Interaktion mit der Marke erlaubt und auch Wissen bietet. Ein Laden einer Marke ist im Prinzip zu einer physischen Werbung geworden. Verbringt ein Kunde Zeit in einem Laden, kauft aber danach nichts, steigt aber die Wahrscheinlichkeit, dass er dann allenfalls zu Hause ein Produkt erwirbt.  

Viele Wege führen nach Rom

Dabei kann man den Erfolg der Beauty-Kette Sephora, die zum Luxusgüterkonzern  LVMH zählt, betrachten: Das Filialnetz umfasst weltweit 2600 Shops. Die Kunden schätzen vor allem die Option auf Sampling. Sie können alle Produkte ausprobieren und damit ist Sephora zu einem Treffpunkt für Schönheitsliebhaber geworden  – und natürlich auch von Influencern, die dann wiederum die Marke im Netz verbreiten.

Das Corona-Virus hat gezeigt, wie anfällig der stationäre Handel in einer digitalisierten Welt  geworden ist. Die Pandemie hat die Händler dazu gezwungen, das Konzept des Ladens nochmals gründlich zu überdenken. Dabei muss sich ein  Händler auch fragen, wie der Kunde im 21. Jahrhundert shoppt. Das Einkaufserlebnis findet gleichzeitig  online, offline, auf dem Handy, im Regal und mit Bots und digitalen Ratgebern statt. 

Viele suchen vor dem Shoppen erstmals auf Google, finden dann ein Geschäft und möchten auch schon vorher wissen, ob das Produkt dort in der richtigen Grösse verfügbar ist. Dabei machen viele stationäre Händler den Fehler, das Online- und Offline-Angebot zu trennen, anstatt sie zusammenzuführen. Dem Kunden muss es möglich sein, alles jederzeit und nahtlos erleben und aktivieren zu können. 

Berühren mit allen Sinnen

In einer Multichannel-Retailwelt ist der Laden nur einer von vielen Interaktionspunkten neben E-Commerce und Social Media. Aber der Shop ist der Berührungspunkt, der am emotionalsten ist. Menschen wollen Produkte nach wie vor fühlen und berühren. Im Laden haben Brands die Möglichkeit, nicht nur ihre  Produkte, sondern auch ihre Werte, ihre Identität und ihre Expertise zu vermitteln. Ein clever und schön gestalteter physischer Raum kann den Wert der Produkte darin steigern. So etwa auch bei «Bridge». Zahlreiche Produkte sind auch in anderen Migros-Filialen erhältlich, aber das Gefühl beim Kauf ist an der Europaallee ein anderes. 

Es entspricht einer Tatsache, dass die Verbraucher heute immer weniger Gründe brauchen, um einkaufen zu gehen, wenn alles online von zu Hause aus verfügbar ist. Covid-19 hat das klar vor Augen geführt. Deshalb müssen physische Shops überraschen. Und das ist eine Herausforderung, wenn heute viele Shops auch ein Café oder ein Erlebnisraum sind.



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