Nachfolgender Gastbeitrag von Professor Dr. Gerrit Heinemann ist ursprünglich am 29-März-2016 in der FAZ publiziert worden. Wir veröffentlichen diesen in der ursprünglichen Fassung mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Heinemann.
Professor Dr. Gerrit Heinemann leitet das eWeb Research Center der Hochschule Niederrhein, wo er auch BWL, Managementlehre und Handel lehrt.
Gerrit Heinemann wird an der Preisverleihung des E-Commerce Awards die Keynote „Digitale Transformation versus digitale Disruption im Handel“ halten wie auch an der E-Commerce Connect Konferenz am Streitgespräch „Hat der stationäre Handel eine Zukunft“ mit Jochen Krisch teilnehmen.
Die Diskussion um die Zukunft des Handels beißt sich fest an der Frage „digitale Disruption versus digitale Transformation“. Im Grunde geht es aber um die Verweigerung notwendiger Veränderungen mit falschen Argumenten.
Wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen viele Hersteller und Traditionshändler vor der Frage, was digital zu tun ist. Nach dem Prinzip Hoffnung werden dabei Online Pure Plays (reine Internethändler) nicht selten für tot erklärt oder als Non-Profit-Veranstaltung abgetan. Es fehlt zuweilen am Bewusstsein für die Notwendigkeit der digitalen Transformation, vor allem aber fehlt es an Risikobereitschaft.
Der Grund liegt auf der Hand: Ein Handelskonzern hat viel Geld in die Hand zu nehmen, wenn das Management beschließt, die Digitalisierung mit Vollgas voranzutreiben. Auch müssen Komfortzonen abgebaut werden, sowohl bei den Führungskräften selbst als auch bei den Mitarbeitern. Die schnellen Online Pure Plays machen vor, dass ausgeprägte Statussymbole und Hierarchien eher hinderlich sind bei der Digitalisierung.
Um von ihnen zu lernen, können sich Traditionshändler sicherlich in der Frühphase an Start-ups beteiligen und so ein intelligentes digitales Portfolio aufbauen. Beispiele gibt es mittlerweile genug: Ob Otto oder Tengelmann, Axel Springer oder Burda, Metro oder Rewe, selbst der Stahlhändler Klöckner und Co lässt sich bereits als Start-up-Schmiede feiern. Eine konsequente digitale Transformation gleicht allerdings vielmehr einem umfassenden Sanierungsprojekt als dem Gebaren von Finanzinvestoren: Das Vorgehen mutet eher radikal an, und vielleicht trifft deswegen der Begriff „disruptive Transformation“ mehr den Kern der Sache.
Radikale Öffnung und Erneuerung
Vor allem in Hinblick auf den Anspruch, im Leistungsvermögen mindestens mit den disruptiven Pure Plays gleichziehen zu wollen. Denn wer bei diesem Thema zu vorsichtig agiert, wird auf Dauer keine Schnitte gegen Amazon und Co holen können. Dafür muss allerdings die bestehende Organisation radikal geöffnet und erneuert werden, um die Impulse aus dem digitalen Portfolio im bisherigen Kern umsetzen zu können.
Vermutlich werden etliche Unternehmen das Momentum verpassen, weil sie das Thema und die digitale Neuausrichtung unterschätzen oder immer noch versuchen kleinzureden. Insgesamt halten sich zehn Mythen gegen die digitale Transformation dauerhaft wie ein Mühlstein. Sie lähmen oder verhindern vielfach die erforderliche digitale Neuausrichtung und Transformation.
Mythos Non-Profit
Häufigstes Argument, den Schritt in Richtung Online nicht zu wagen, ist die Aussage: „E-Commerce lohnt sich nicht!“ Bei insgesamt stagnierenden Umsätzen und überproportional steigenden Online-Umsätzen in nahezu allen Branchen ist die Alternative zur Digitalisierung jedoch schlicht und ergreifend Umsatzverlust bis hin zur Existenzgefährdung. Die Digitalisierung wird ganz klar vom Kunden vorangetrieben und gewollt. Bereits rund 70 Prozent aller erwachsenen Deutschen über 14 Jahren nutzen das mobile Internet, so die neueste Smartphone-Studie von kaufDA.
Sie nutzen Technik und Mobiles zur Kaufvorbereitung, und schon die herausragende Rolle des Smartphones als Zubringer für die anderen Verkaufskanäle beantwortet bereits die Frage, ob sich Online lohnt, vor allem unter dem Aspekt der Marketingwirkung. Zudem zeigt sich, dass Online Pure Plays wie Booking.com, fahrrad.de, Reuter-Badshop oder Zalando & Co. entweder mindestens so profitabel wie bisherige Offline-Anbieter sind, oder aber – wie Amazon – ihre hohen Ebitda-Margen zur Wachstumsbeschleunigung reinvestieren.
Mythos Lead Channel
Die immer wieder beschworene These, dass die analogen Absatzkanäle oberste Priorität hätten, folgt eigentlich nur dem Prinzip Hoffnung und ist mit keiner Studie zu diesem Thema zu belegen. Das Festhalten am „Lead Channel Offline“ (dem wichtigsten Absatzkanal stationäres Geschäft) steht völlig im Widerspruch zu den Erwartungen der Kunden. Vor allem die mobile Internetnutzung wird die Handelswelt komplett verändern. Und auch das immer wieder für beendet herbeigesehnte E-Commerce-Wachstum entwickelt sich nach wie vor zweistellig.
Forrester geht davon aus, dass bis 2020 in Europa mehr als die Hälfte aller Einzelhandelsumsätze inklusive Lebensmittel einen Online-Bezug haben. Insofern ist der „Lead-Channel-Mythos“ offensichtlich nichts anderes als Ausdruck einer digitalen Allergie und offenbart in erster Linie eine grundsätzliche Verweigerungshaltung, sich mit der digitalen Transformation offensiv und tabulos auseinanderzusetzen.
Sortiment, Systeme und Organisation müssen auf den Kopf gestellt werden
Mythos Sortiment
„Herz des Handels“ ist immer noch das Sortiment. Dieser Erkenntnis wird eigenartigerweise in vielen Online-Shops nicht gefolgt. Skalierungsfähiger Umsatz kann auch hier – wie im stationären Geschäft – nur mit ausreichend großen Sortimenten erzielt werden. Diese sollten im Online Shop sogar am größten sein, denn immer mehr Kunden erwarten, dass sie alle Produkte im Netz finden und sich beinahe jedes weltweit verfügbare Produkt relativ schnell und einfach beschaffen können. Online muss mindestens das Angebot des stationären Geschäfts angeboten werden.
Die Verbraucher erwarten hier aber eher mehr, nämlich dass ein Händler das Angebot seiner Branche in der maximalen Tiefe bereit hält (Category killer). Das gilt auch für Hersteller: So wiesen ein Drittel der deutschen Konsumenten eine hohe Markenaffinität auf und immerhin 43 Prozent von ihnen bestätigen, Markenprodukte in der Regel im Online Store des Herstellers zu kaufen, während 38 Prozent zum Kauf den stationären Laden des Herstellers besuchten – so das Zukunftsinstitut.
Mythos Systeme
Stationäre Händler müssen erkennen, dass es ohne nennenswerte Systeminvestitionen nicht gehen wird. So katapultieren Walmart, Target, Nordstrom und Apple in den Vereinigten Staaten oder John Lewis in Großbritannien jeweils mit Milliardenaufwendungen ihre E-Commerce-Plattformen in kürzester Zeit zu ernstzunehmenden Amazon-Gegnern, wohingegen viele der deutschen Stationärhändler immer noch ihr Heil in einer Flächenexpansion sehen. Auch die sich ändernden Kundenerwartungen in Hinblick auf Zeitersparnis und reibungslosen Transport erfordern physische Hightech-Logistikzentren mit hochgradig optimierten und automatisierten Abläufen.
Wahrscheinlich mit Robotern, so wie sie derzeit von Amazon implementiert werden. Um diese „logistische Automation“ zu bewältigen, werden vor allem Megalogistikzentren auf der grünen Wiese als auch lokale Depots in den Städten und/oder in der Nähe der Kunden erforderlich werden, was nicht ohne Systeminvestitionen möglich sein dürfte.
Mythos Organisation
Bereits seit mehr als zehn Jahren weisen die Erkenntnisse des Business Reengineering darauf hin, dass funktionale Organisationen eher nicht geeignet sind, den Anforderungen des digitalen Zeitalters gerecht zu werden. In funktionalen, angebotsorientierten Führungsstrukturen, in denen Organisationsänderungen im mittleren und für das Tagesgeschäft verantwortlichen Management manchmal jahrelang beantragt werden müssen, kann die Geschwindigkeit nicht aufkommen, die für das digitale Zeitalter erforderlich ist.
Die erforderliche „Kundenzentriertheit“ muss das komplette Geschäftssystem des Unternehmens durchdringen und den Mitarbeitern zugleich einen Orientierungsrahmen vorgeben. Dies geht in der Regel mit größeren Leitungsspannen und flacheren Hierarchien einher. Kundenorientierte Rundumbearbeitung mit minimierter Schnittstellenanzahl ist in funktionalen Organisationsformen kaum möglich.
Disruption in Harmonie ist schwerlich möglich
Mythos Harmonie
Die Angst vor Konflikten führt zum Mythos, die digitale Neuausrichtung nur in Harmonie erreichen zu können. Kooperative E-Commerce-Geschäftsmodelle stellen allerdings ein Risiko dar: Gelangen Verbundgruppen aufgrund der zu starken Einbindung der Mitgliedsfirmen zu einer Kompromisslösung, ist dieses schnell kontraproduktiv. Denn nicht die Kritik der Händler ist das größte Risiko, sondern vielmehr der faule Kompromiss, zu dem Anbieter aus Rücksicht auf Kunden gelangen.
Aber auch auf Mitarbeiterseite bremsen Gewerkschafts- und Betriebsratsandrohungen die digitale Transformation. Groß ist zudem die Angst vor einer Kulturveränderung: Traditionelle Handelskonzerne werden oft hierarchisch und konservativ geführt. Damit fällt es ihnen allerdings immer schwerer, an hochqualifizierte Absolventen heranzukommen, die sie vor allem für die digitale Transformation benötigen. High Potentials, die im E-Commerce Karriere machen wollen, suchen ihre Erfahrungen lieber bei Online-Händlern wie Amazon, Zooplus oder Zalando.
Mythos Outsourcing
Vor allem Multi-Channel-Anbieter (stationär und online), die niemals ihr stationäres Geschäft an Dritte outsourcen würden, tun dies in der Regel mit dem Online-Kanal und wundern sich dann, dass dieser nicht funktioniert. Die bisher gängige Annahme, dass in jedem Fall Outsourcing-Lösungen vorzuziehen sind, kann schnell in die Renditefalle führen. Denn mit variablen Vergütungsmodellen sind eigentlich keine Skalierungseffekte erzielbar. Oberstes Gebot sollte insofern flexible Vertragsgestaltung mit kurzfristigen Ausstiegsmöglichkeiten sein.
Zudem sollte genau bekannt sein, welches die wettbewerbsrelevanten Kernkompetenzen der E-Commerce-Aktivitäten sind, und zwar ohne Berücksichtigung der bisherigen Kernkompetenzen im Traditionsgeschäft. Mittlerweile ist unstrittig, dass ein Mindestmaß an Insourcing zur Profitabilität notwendig ist. Vor allem ist es erforderlich, neue digitale Kompetenzen in eigenen schlagkräftigen E-Commerce-Organisationen schnellstmöglich aufzubauen, die alle notwendigen Funktionalitäten und dabei vor allem auch Sourcing und Einkauf professionell abbilden.
Mythos Online-Wachstum
Wer wachsen will, sollte einen Online Pure Play (reinen Internet-Shop) gründen. Wer aber die Existenz seines bisherigen Stammgeschäftes nachhaltig sicherstellen will, sollte Kunden binden und Umsatz sichern. Losgelöst vom bisherigen Geschäft lässt sich ohne Zweifel das größte Wachstum mit Online Pure Plays entwickeln: Bei Zalando sitzen zur weiteren Wachstumsgenerierung etwa Hunderte Programmierer im Großraumbüro und konzentrieren sich auf die Entwicklung der Website. Beteiligungen an solchen Unternehmen, wie von etlichen Traditionsunternehmen mit eigenen Venture-Abteilungen bereits praktiziert, liegen insofern nahe.
Sie lösen damit allerdings nicht das Problem des schleichenden Umsatzverfalls in den stationären Absatzkanälen. Der traditionelle Handel muss sich im Zuge der digitalen Transformation quasi neu erfinden und digitales Wissen ins Haus holen. Bezogen auf das bisherige Stammgeschäft, sollte deswegen ein anderes Evolutionsverständnis im Fokus stehen, nämlich aus etwas Bestehendem etwas Besseres zu machen. Und das Bessere sollte zukunftsfähig sein, weswegen es im Hauptfokus der Digitalstrategie liegt und daher neu erfunden werden muss. Das zielt weniger auf Wachstum, als auf Stabilisierung und Existenzsicherung ab.
Mythos Innovation
Anders als im stationären Handel sind online sowohl der Shop-Auftritt als auch die -Funktionalitäten permanent zu aktualisieren. Nichts ist schlimmer im E-Commerce als ein mehrere Jahre unveränderter und damit schnell veralteter Shop-Auftritt. Nicht selten erinnert der Auftritt neuer Online-Shops an die erste Generation von Online-Händlern und ist damit schon bei der Markteinführung veraltet.
Der sogenannte Set-up sollte sich kompromisslos an den neuesten Standards orientieren. Auch geht es darum, dem veränderten Nutzungs- und Kaufverhalten der Kunden Rechnung zu tragen: Während die Internetnutzung zu Hause zwar stagnieren mag, explodiert der Gebrauch des mobilen Internets außer Haus. Tendenz stark steigend, wie auch die Rolle des mobilen Netzes zur generellen Kaufvorbereitung im Laden. Insofern ist hier trotz Online-Auftritt bereits erheblicher innovativer Handlungsbedarf gegeben. Rund 50 Prozent der deutschen Online-Shops sind nicht mobil optimiert.
Der Kunde bleibt wichtig – egal ob offline oder online
Mythos Erlösung
Die Digitalisierung ist keinesfalls die Lösung aller Probleme, sondern schafft auch völlig neue Herausforderungen. Sie weckt vor allem auch neue Kundenerwartungen. Nach jüngster kaufDA-Studie betrifft das die Nutzungsmöglichkeit der Smartphones im Laden sowie die Erwartung, W-Lan und Empfang für das Smartphone im Laden zu haben. Auch der Wunsch, über Liefermöglichkeiten informiert zu werden und unaufgeforderte Informationen zu besonderen Angeboten in der Nähe auf das Smartphone gespielt zu bekommen.
Auf der anderen Seite schafft die geforderte Datensicherheit neue Probleme: Immerhin 41 Prozent der Internetnutzer schickt wichtige Dokumente lieber per Post statt per Mail. Auf Online-Shopping verzichtet gut ein Viertel der Nutzer, auf die Buchung von Reisen oder Tickets fast jeder fünfte. Nur 20 Prozent der Internetnutzer bekunden, keine Sicherheitsbedenken bei Transaktionen im Internet zu haben. Das Kundenvertrauen gegenüber dem Anbieter im Internet wird damit immer mehr zu einem zentralen Erfolgsfaktor.
Insofern bleibt der Kunde wichtig, egal ob offline oder online. Jeff Bezos, Vorstandsvorsitzender von Amazon, ist der festen Überzeugung, dass nur überragender Service am Kunden und genaues Verstehen der Kundenwünsche langfristig Erfolg gewährleisten können. Da Kunden Angebote verschiedener Händler zu einem Produkt vergleichen wollen, hat er anderen Händlern erlaubt, auch bei Amazon anzubieten, selbst auf die Gefahr hin, dass Amazon von anderen Händlern unterboten werden kann.
„Tut ihr es nicht, so wird es der Kunde tun“ ist dabei sein Motto entsprechend der Kundenzentriertheit. Die Kunst der Kundenzentriertheit liegt in der überragenden Individualisierung oder Personalisierung des Unternehmens und in der richtigen Implementierung, die Chefsache sein muss. Nur wenn die oberste Führung von der Kundenzentriertheit überzeugt ist, wird sie auch bereit sein, dies glaubwürdig vorzuleben und das Unternehmen systematisch kundenzentriert auszurichten. Das ist die wichtigste Voraussetzung für Vertrauen und Erfolg der Digitalisierung im Handel.
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