Amazon kommt (endlich) in die Schweiz – na und?

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Einen Tag vor dem Black-Friday versetzte die heutige Meldung der Bilanz, dass Amazon nun definitiv in der Schweiz startet, den Schweizer Handel kurz in Schockstarre. Und die Onlinemedien titelten u.a. mit einem „Paukenschlag im Schweizer Onlinehandel“ und verschiedene Untergangsszenarien machten sogleich die Runde.

Endlich ist es soweit – jetzt Chancen packen!

Die Frage war ja seit Jahren nicht mehr, ob Amazon in die Schweiz kommt sondern nur noch, wann es eigentlich soweit ist. Und ganz konkret gesehen, kommen sie immer noch nicht in die Schweiz, sondern operieren weiterhin aus dem benachbarten Ausland.

Einzig die Zollhürden werden deutlich gesenkt gemäss der heutigen von der Bilanz recherchierten Meldung. Die Post will die Verzollung übernehmen und die MwSt ordentlich abführen. Das verschafft einerseits gleich lange Spiesse wie bei den Schweizer Händlern, was zu begrüssen ist.

Anderseits wird dies Amazon ermöglichen, durch die elektronische Sammelverzollung innert 24 Stunden in die Schweiz auszuliefern, was die Konkurrenzfähigkeit steigert zu Lasten des bisherigen Preisvorteils wg. den Zollfreigrenzen (Sendungen im Gesamtwert von CHF 67.- rsp. CHF 200.- für Bücher konnten zollfrei zugestellt werden). Ein Verfahren, das Zalando seit dem Start in der Schweiz erfolgreich praktiziert – der Schweizer Kunde wird wie von einem Schweizer Händler beliefert. Für Amazon heisst dies wohl auch, Prime Ahoi! Doch dazu weiter unten.

Fakt ist, Amazon ist weiterhin physisch nicht präsent in der Schweiz mit Logistik-Infrastruktur etc. Warum dies wohl noch einige Zeit so bleibt und wie die möglichen Eintrittszenarien aussehen könnten, haben wir im April dieses Jahres bereits im Detail beschrieben. Und daran ändert auch die heutige Ankündigung nichts.

Viel interessanter sind die Chancen, die sich dadurch den Schweizer Händlern bieten! Patrick Kessler hat dies in einem engagierten Plädoyer heute drüben beim VSV aufgezeigt: Cool bleiben – das Glas ist halbvoll!

Warum «gehe» ich als Schweizer Händler nicht genau jetzt auf Amazon? Die Ausgangslage ist eigentlich einmalig: AMAZON WIRD IN DER LAGE SEIN IN DIE SCHWEIZ ZU LIEFERN.

ALLES (oder fast alles) AUCH DIE SORTIMENTE DER SCHWEIZER MARKTPLATZHÄNDLER!!!

Als Händler könnte ich nun meine Ware über Amazon als Vendor oder Seller feilbieten… und Amazon liefert auch in die Schweiz. Gleichzeitig kann die gleiche, bei Amazon in D liegende Ware auch über ganz Europa verteilt werden. Wann hat es jemals diese Möglichkeit gegeben? Bis anhin war das nicht möglich, ich musste fast zwingend 2 Lagerbestände führen….

Und der Knüller zum Schluss: Mit Amazon Prime würde meine Ware am nächsten Tag beim Kunden sein, selbst wenn ich selber in der Schweiz diese Performance nicht hinbringe (was wiederum eher peinlich für den Schweizer Händler ist).

Nun gut, es kostet etwas und ich begebe mich in Abhängigkeiten. Aber die Internationalisierung steht auf einmal unter einem anderen Stern und es eröffnen sich neue Perspektiven. Es lohnt sich, diesen Standpunkt einzunehmen und ernsthaft zu prüfen!

Und an die Adresse der Pessimisten:

Sie wagen sich nicht? Sie glauben nicht an Ihr Produkt oder haben Angst vor Amazon?

Wenn dem wirklich so ist: Verkaufen Sie Ihre Lagerrestbestände und legen Sie die Liquidität in Amazon Aktienan.

Denn offenbar ist Ihr Glaube an Ihre Produkte kleiner als die Angst vor Amazon. Wenn Sie so denken, dann ist es Zeit Ihr Handelsmodell zu überdenken.

Fragmentierung im Schweizer Onlinehandel

Mit Blick auf den DACH-Raum zeigt sich der Schweizer Onlinehandel stark fragmentiert. Amazon nimmt hierzulande (noch) keine dominierende Rolle ein, wie dies in unseren beiden deutschsprachigen Nachbarländern bislang der Fall ist.

Top-10 Onlineshops Deutschland, Österreich und Schweiz - Quelle: EHI/Statista/Carpathia
Top-10 Onlineshops Deutschland, Österreich und Schweiz – Quelle: EHI/Statista/Carpathia

Sowohl in Deutschland wie auch Österreich dominiert Amazon den Handel. Ganz anders in der Schweiz, wo sich die Top-10 in Relation gleichmässiger verteilen und Amazon.de bislang den 3. Platz belegt. Alle Amazon Ländergesellschaften, welche primär von Schweizer Konsumenten in den verschiedenen Landesteilen genutzt werden (.de / .fr / .it / .com) kommen 2016 konsolidiert auf etwas über CHF 600 Mio Umsatz gemäss unserer Schätzung.

Kommen Schweizer Onlinehändler unter Druck?

Amazons angekündigter Schweizstart soll hiesige Onlinehändler arg unter Druck bringen, so einzelne Medienstimmen heute. Deutlich entspannter anders tönt es auf Händlerseite. So wird Florian Teuteberg, CEO von Digitec/Galaxus und damit dem mit Abstand grössten Schweizer Onlineändler mit konsolidiert CHF 704 Mio Umsatz im letzten Jahr, bei inside-channel zitiert:

Wir bereiten uns seit Jahren auf eine stärkere Präsenz von Amazon in der Schweiz vor.

Die Anzeichen für den Markteintritt haben sich in den letzten Monaten verdichtet. Wir sind entsprechend gewappnet.“

Ähnlich tönt es bei anderen Händlern. Denn Amazon war faktisch schon immer da, was ja die Umsätze in der Schweiz auch beweisen.

Mit dem neuen Service-Level wie 24 Stunden Lieferung und zollkonformer Abwicklung wird der Wettberb zwar verschärft, jedoch auch fairer. Und schaut man sich die Preisniveaus an, so wird Amazon gerade im Bereich Elektronik aber auch Medien wie Bücher auf absolut konkurrenzfähige Schweizer Händler treffen, welche ihre Hausaufgaben in den letzten Jahren gemacht haben und mit excellenter Execution aufwarten können.

Härter könnte der Wettbewerb werden in den übrigen Sortimenten wie Beauty (wo auch Zalando den Start angekündigt hat) oder auch Spielwaren, Werkzeuge etc. Und in der Mode wird mit Amazon ein weiterer starker Konkurrent am Markt auftreten.

Trotzdem, der Wettbewerb wird ziemlich verschärft und vor allem den kleineren und mittleren Händler dürfte ein harter Gegenwind ins Gesicht blasen. Es ist davon auszugehen, dass es zu Bereinigungen und Konsolidierungen im Markt kommen wird.

Interessant wird zudem sein, ob einzelne Hersteller und Marken korrigierend eingreifen und beispielsweise den Verkauf via Amazon in die Schweiz unterbinden, um die Vertriebs- und Preispolitik noch ein Weilchen unter Kontrolle zu halten. Doch auch dies wird in Bälde zur Makulatur.

König Kunde – Prime Ahoi

Der Markteintritt wird für den Kunden natürlich sehr interessant. Ich gehe jedoch nicht davon aus, dass wie vom Blick angekündigt, ein Sortiment von 229 Mio. Artikeln den Schweizern schon bald zur Verfügung stehen wird.

Denn in diesen 229 Mio gelisteten Artikeln (Stand Januar 2017) stammt ein Grossteil von Marktplatz-Händlern, welche nicht die Amazon Logistik-Services wie FBA nutzen sondern direkt und autonom ausliefern. Und mutmasslich nutzen diese vorerst kaum die neuen Verzollungsprozesse. Werden sich wohl wie bisher schwer tun mit Zolldeklarationen und den korrekten Tarifen und Gewichten (!).

Dennoch wird neu ein Sortiment von Dutzenden von Millionen Artikeln für die Schweiz zur Verfügung stehen. Und meine Aussage, „wahre Warenhäuser sind online“ scheint erneut bestätigt. Damit das Sortiment für Schweizer Kunden schnell identfizierbar ist, muss Amazon aber auch in der Usability und Funktionalität noch nachlegen.

Ich gehe davon aus, dass zuerst das eigene Prime-Sortiment „helvetisiert“ wird und danach sukzessive die weiteren Eigensortimente wie auch Marktplatz-Kataloge soweit die Händler für den Export fähig sind.

Steht das Prime-Sortiment für die Schweiz zur Verfügung, dann darf man wohl ebenso davon ausgehen, dass das Prime-Programm für die Schweizer geöffnet wird, was wiederum den Zugang zum Amazon-Ökosystem ermöglicht und damit die Welt von Kindle über Echo/Alexa bis Amazon TV.

Alles bislang möglich, mittels Work-Arounds über ausländische Accounts und mehr. Für Schweizer scheint mit dieser Ankündigung also die Zeit des Amazon-Westfernsehens bald zu Ende zu sein.



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Thomas Lang, Betriebsökonom und Wirtschaftsinformatiker, unterstützte Unternehmen bei der Strategieentwicklung von digitalen Vertriebsmodellen, beim Aufbau von digitalen Geschäftsmodellen, bei Expertisen rund um Onlinehandel und der operativen Umsetzung im Bereich Organisation, Prozesse, Innovation, Change-Management und Unternehmenskultur. Er ist Gründer der Carpathia AG, der unabhängigen und neutralen Unternehmensberatung für Digital-Business, E-Commerce und Digitale Transformation im Handel. Zudem ist er Autor von zahlreichen Fachartikeln und -studien, Dozent für Online-Vertriebsmodelle an verschiedenen Hochschulen sowie gefragter Keynote-Speaker zu E-Commerce und Digital Transformation im Handel. Er ist Initiator und Organisator der Connect - Digital Commerce Conference sowie des Digital Commerce Awards. Der von ihm gegründete Carpathia Digital-Business-Blog (https://blog.carpathia.ch) zählt im deutsch-sprachigen Raum zu den wichtigsten unabhängigen Publikationen im Digitalen Handel. Medien bezeichnen ihn als digitalen Vordenker, zitieren und interviewen ihn regelmässig . Am Mittwoch 17. November hat Thomas Lang für immer die Augen geschlossen.

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